Wer arbeitet, hat mehr

Bürgergeld Die Erhöhung des Bürgergelds hat eine Debatte über das Verhältnis von Erwerbseinkommen und Transferleistungen. Die FDP fordert nun einen jährlichen Inflationsausgleich in der Einkommenssteuer. Der Vorstoß lohnt eine nähere Betrachtung.

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Die geplante Erhöhung der Regelsätze für das Bürgergeld hat eine politische Debatte ausgelöst, in der die Schlagworte nur so durch die Luft sausen. Vom Lohnabstandsgebot ist die Rede, davon, dass man mit Arbeit mehr Einkommen erzielen muss als mit existenzsichernden Transferleistungen. "Wer arbeitet, muss mehr haben", fordert CDU-Fraktionsvize Jens Spahn. Die Systematik des Bürgergelds mit der gestuften Anrechnung von Einkünften aus Erwerbsarbeit stellt freilich sicher, dass diese "Forderung" der CDU bereits erfüllt ist. Die ersten 100 Euro eines Erwerbseinkommens werden nicht auf das Bürgergeld angerechnet. Darüber hinaus gibt es gestaffelte Freibeträge für Bruttoeinkommen bis 1.200 bzw. (wenn ein minderjähriges Kind im Haushalt lebt) 1.500 Euro. Hinzu kommt. Darüber hinaus können noch Fahrtkosten und andere für die Arbeit notwendige Aufwendungen abgesetzt werden, wenn sie den Freibetrag übersteigen. So bleiben beispielsweise bei einem Bruttoeinkommen von 800 Euro pro Monat ohne Berücksichtigung von Fahrtkosten 268 Euro anrechnungsfrei, um die das Haushaltseinkommen dann im Vergleich zum reinen Bürgergeldbezug steigt. Dies alles könnte auch Jens Spahn auf der Homepage des BMAS nachlesen. Die politische Verknüpfung der Höhe existenzssichernder Transferleistung und der Höhe von Erwerbseinkommen ist freilich ebenso wenig neu wie die Neigung, diese mit abenteuerlichen Vereinfachungen zu führen, wie zum Beispiel jener, dass eine vierköpfige Familie so viel Bürgergeld erhalte wie eine "Durchschnittsverdiener-Familie in Deutschland". Die politische Instrumentalisierungsabsicht wird spätestens dann deutlich, wenn man sich klar macht, dass es oft dieselben sind, die die Erhöhung des Mindestlohns kritisiert haben, und nun die des Bürgergelds.

Ein aktueller Vorstoß aus der FDP lenkt aber den Blick zu Recht auf die systematischen Verknüpfungen zwischen existenzssichernden Transferleistungen und der steuerlichen Behandlung von Einkommen. Der Vize-Parteichef der FDP fordert im Kontext der laufenden Debatte einen "jährlichen Inflationsausgleich" in der Einkommenssteuer. Etwas ähnliches gibt es nämlich eigentlich schon, durch die Systematik des Grundfreibetrags und des Familienleistungsausgleichs. Etwas vereinfacht funktioniert dies folgendermaßen. Durch diverse Urteile des Bundesverfassungsgerichts ist der Gesetzgeber dazu verpflichtet, das Existenzminimum in der Einkommenssteuer steuerfrei zu stellen. Dafür gibt es zum einen den Grundfreibetrag in der Einkommenssteuer, der sich aus den sog. Existenzminimumberichten der Bundesregierung ergibt, in denen ex ante das steuerfrei aus der gemittelten Höhe der existenzsichernden Transferleistungen (Regelleistungen im Bürgergeld plus gemittelte Kosten der Unterkunft) das künftig steuerfrei zu stellende Existenzminimum ermittelt wird. Mit anderen Worten: steigen wegen der Inflation die Regelsätze im Bürgergeld, dann steigt zeitversetzt auch entsprechend der Grundfreibetrag in der Einkommenssteuer. Eine Erhöhung der Regelsätze im Bürgergeld um 61 Euro Monat muss also mindestens zu einer Erhöhung des Grundfreibetrags um 732 Euro führen. Für Kinder funktioniert das System des Familienleistungsausgleichs ähnlich. Auch für sie werden im Existenzminimumbericht die existenzsichernden Transferleistungen gemittelt, die einen Kinderfreibetrag in der Einkommenssteuer ergeben. Hinzu kommen Freibeträge für den Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsaufwand. Steigen also die Regelsätze im Bürgergeld für Kinder, steigt zeitversetzt auch der Kinderfreibetrag und in der Folge auch das Kindergeld. Das Kindergeld ist in dieser Systematik eigentlich eine negative Einkommenssteuer. Übersteigt die durch Kinderfreibetrag und Ausbildungsfreibetrag zu erzielende steuerliche Entlastung das Kindergeld (was bei höheren Einkommen der Fall ist), wird dies durch die Steuererklärung und eine entsprechende Erstattung ausgeglichen. Eine zugegebenermaßen schwierig zu verstehendes Systematik, mit der aber immerhin schon jetzt sicher gestellt ist, dass notwendige Erhöhungen bei den existenzsichernden Transferleistungen zeitversetzt auch zu Entlastungen in der Einkommenssteuer führen. Gäbe es sachliche Gründe, diese Systematik zu vereinfachen? Gewiss, aber die jetzige Systematik ist nicht vom Himmel gefallen, sondern das Resultat einer ganzen Serie von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, die jeden Versuch einer Änderung zu einem riskanten Manöver machen. der

Genau das, und damit wird der Vorstoß der FDP tatsächlich interessant, hat die Ampel gerade vor, und zwar mit dem Vorhaben, eine Kindergrundsicherung einzuführen. Die Kindergrundsicherung soll nach den bis jetzt öffentlich vorliegenden Informationen nämlich deutlich in das bisherige System des Familienleistungsausgleichs eingreifen. Auf der Homepage des BMFSFJ heißt es dazu: "Die Kindergrundsicherung soll aus einem für alle Kinder gleich hohen Kindergarantiebetrag bestehen, der das heutige Kindergeld ablöst - außer dem Namen ändert sich nichts. Hinzu kommt ein einkommensabhängiger Kinderzusatzbetrag. Zusammen decken Kindergarantiebetrag und Kinderzusatzbetrag das soziokulturelle Existenzminimum für Kinder ab." Die Verknüpfung mit dem soziokulturellen Existenzminimum zeigt an, dass hier nicht weniger geplant ist, als eine Reform, die auf eine zentrale existenzsichernde Transferleistung für Kinder abzielt. Folgerichtig heißt es weiter: "Aus fünf wird mit der Kindergrundsicherung eins: Kindergeld, Kinderzuschlag, Kinderregelbedarf aus Bürgergeld und Sozialhilfe sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepaketes werden in der Kindergrundsicherung zusammengefasst."

Mit dem Kindergeld und dem kinderbezogenen Transferleistungen im SGB II und SGB XII sollen also zwei Leistungssachverhalte zusammen gefasst werden, die bisher durch den oben erwähnten Existenzminimumbericht der Bundesregierung systematisch verknüpft sind. Bislang ist es so, dass aus den gemittelten Transferleistungen im SGB II/XII der Kinderfreibetrag und daraus abgeleitet das Kindergeld ermittelt wird. Die Kindergrundsicherung wird damit zu einer Operation am offenen Herzen des Familienleistungsausgleichs. Denn theoretisch besteht die Gefahr eines sozialpolitischen Zirkelschlusses. Wenn Kindergarantiebetrag und Kinderzusatzbetrag zusammen das Existenzminimum für Kinder ergeben, aus dem Existenzminimum aber wiederum der Kindergarantiebetrag abgeleitet wird, funktioniert die bisherige Systematik des Existenzminimumberichts nicht mehr. Nun darf man gewiss davon ausgehen, dass die Jurist*innen in den Bundesministerien diese Problematik im Blick haben. Die mit der Reform verbundenen verfassungsrechtlichen Risiken liegen gleichwohl schon mit Blick auf vergangene Reformen auf der Hand. Die Ermittlung des soziokulturellen Existenzminimums wird also weiterhin erfolgen müssen und in einem Verhältnis zu den existenzsichernden Leistungen im Bürgergeld stehen müssen, und sie muss, wenn man davon ausgeht, dass das Bundesverfassungsgericht seine bisherige Rechtsprechung beibehält. Und sie muss auf eine Weise erfolgen, die eine systematische Verknüpfung zu den kinderbezogenen Freibeträgen in der Einkommenssteuer sicher stellt. Die Frage, wie der Kinderzusatzbetrag ermittelt wird, ist also zentral und entscheidet darüber, ob die Reform auch einer absehbaren Überprüfung vor dem Bundesverfassungsgericht standhält. Der bislang kursierende Referentenentwurf aus dem BMFSFJ hebt daher auf den Regelbedarf von Kindern in der Grundsicherung ab und stellt ausdrücklich die Verknüpfung zum steuerfreien Existenzminimum her. Eine vollständige Entkopplung der Kindergrundsicherung von den Grundsicherungsleistungen des SGB II/XII erfolgt also erwartungsgemäß nicht. Es bleibt bei der Systematik, dass ein aus der Grundsicherung abgeleiteter Regelbedarf für Kinder zugrunde gelegt und auf dieser Basis ein konkreter Bedarf ermittelt wird, wobei der Kindergarantiebetrag (Kindergeld) als Einkommen angerechnet wird. Verfassungsrechtlich dürfte diese Einfügung in die existierende Systematik belastbar sein. Ein detaillierter Blick auf das fertige Gesetz nach der Ressortabstimmung im Kabinett und dem parlamentarischen Verfahren bleibt gleichwohl interessant. Und der Vorstoß der FDP weist immerhin auf den größeren Zusammenhang hin, in dem die Reform steht, und auf daraus möglicherweise abgeleitete weitere Reformschritte in der Einkommenssteuer.

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Geschrieben von

Alexander Fischer

Alexander Fischer. Mensch. Historiker. Vater.

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