Eine andere Reform ist (immer noch) möglich

Wahlrechtsreform Eine Änderung der Wahlrechtsreform über den Bundesrat ist keine leichte, aber auch keine unlösbare Aufgabe.

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Von massiven Auseinandersetzungen begleitet hat der Bundestag im März eine Reform des Wahlrechts verabschiedet, deren Kern eine Verkleinerung des Bundestags ist. Für Debatten sorgte vor allem die Abschaffung der sogenannten Grundmandatsklausel, die es bisher Parteien, die zwar an der 5-Prozent-Hürde scheiterten, aber mindestens 3 Direktmandate errungen hatten, ermöglichte, dennoch entsprechend ihres Zweitstimmenergebnisses im Bundestag vertreten zu sein. Aktuell betrifft das DIE LINKE, die bei der Bundestagswahl 2021 zwar nur 4,9 Prozent der Zweitstimmen, aber 3 Direktmandate errang und deshalb eine Fraktion im Bundestag bilden kann. Aber auch die CSU lag 2021 mit 5,2 Prozent nur knapp über der Sperrklausel und ist potenziell von der Abschaffung gefährdet. Entsprechend scharf waren denn auch die Angriffe aus der LINKEN und den Unionsparteien. Die Union ist derzeit auch entschlossen, den Klageweg nach Karlsruhe gegen die Reform zu beschreiten. Umso überraschender ist es nun, dass vor allem aus den Reihen von Landespolitikern der Grünen eine Debatte darüber begonnen hat, die Wahlrechtsreform doch noch einmal anzupacken und eventuell über die Befassung im Bundesrat zu ändern. Der hessische Vize-Ministerpräsident Tarik Al-Wazir (Grüne) hat sich entsprechend zitieren lassen. Und der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow (DIE LINKE) ist für Korrekturen an der Reform über den Bundesrat und problematisiert zusätzlich die Repräsentanz der ostdeutschen Länder nach der Reform. Aber ist eine Änderung der Wahlrechtsreform beim derzeitigen Stand des Verfahrens, also nach dem erfolgten Beschluss des Bundestags überhaupt eine realistische Option? Die Antwort lautet: Ja.

Schauen wir uns den Vorgang dafür zunächst gesetzestechnisch an. Was unter dem Begriff „Wahlrechtsreform“ firmiert, ist das 25. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, Gesetz, eingebracht am 20.1. 2023 von den Koalitionsfraktionen der Ampel, beschlossen am 17.3.2023 mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen. Die Beratung im Bundesrat steht aus. Im Innenausschuss des Bundesrats ist die Beratung des Gesetzes für den 27.4.2023 aufgesetzt. Alle vom Bundestag beschlossenen Gesetzesvorlagen müssen dem Bundesrat zur Beratung vorgelegt werden. Das Grundgesetz unterscheidet hinsichtlich der Kompetenzen des Bundesrats zwischen Zustimmungsgesetzen und Einspruchsgesetzen. Ein Zustimmungsgesetz kommt dann zustande, wenn der Bundesrat dem Gesetz mit einer Mehrheit zustimmt. Wenn diese Mehrheit nicht zustande kommt, wird der Vermittlungsausschuss angerufen, in dem Bundestag und Bundesrat über eine konsensfähige Fassung verhandeln müssen, die dann erneut Bundestag und Bundesrat zur Zustimmung vorgelegt werden müssen. Ein Einspruchsgesetz kommt zustande, kann also unverändert in Kraft treten, wenn der Bundesrat nicht innerhalb der vorgegebenen Frist mit einem Mehrheitsbeschluss Einspruch einlegt und den Vermittlungsausschuss anruft. Bei der hier in Rede stehenden Änderung des Bundeswahlgesetzes handelt es sich eindeutig um ein Einspruchsgesetz. Um noch Änderungen an dem vom Bundestag beschlossenen Gesetz zu erreichen, muss sich im Bundesrat eine Mehrheit finden, die Einspruch gegen das Gesetz erhebt und den Vermittlungsausschuss anruft.

Der Bundesrat ist als "Parlament der Länderregierungen" (Selbstdarstellung) aus 69 Sitzen zusammengesetzt, die (mit Unschärfen) nach der Größe auf die Bundesländer verteilt sind. Für eine Mehrheit braucht es also 35 Stimmen. Die Besetzung der Sitze und das Stimmverhalten bestimmen die jeweils amtierenden Landesregierungen. Enthaltungen zählen bei Abstimmungen wie Nein-Stimmen. Die Koalitionsverträge in den Bundesländern enthalten immer einen Passus, der bestimmt, dass im Bundesrat bei Uneinigkeit der Koalitionsparteien mit Enthaltung votiert wird. Ein Einspruchsgesetz im Bundesrat zu verändern, ist deshalb deutlich schwieriger, weil eine Mehrheit dem Einspruch, also dem Wunsch nach Änderung zustimmen muss. Die „Farbenlehre“ des Bundesrats muss daher darauf befragt werden, ob eine solche Mehrheit zustande kommen kann.

Wenn man die bisherigen öffentlichen Äußerungen ernst nimmt, ist die erste Frage, wie viele Stimmen diejenigen Länder mobilisieren können, in denen CDU und Grüne allein regieren. Die vier schwarz-grün regierten Länder Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein bringen zusammen 21 der nötigen 35 Stimmen zusammen. Das Land Bayern wird von CSU und Freien Wählern regiert und hat im Bundesrat 6 Stimmen, auch hier darf man von einem Ja zu einem Einspruch ausgehen. Das schwarz-grüne „Lager“ hat also im Bundesrat 27 von 35 nötigen Stimmen für einen Einspruch. In allen anderen 11 Ländern müssen also in unterschiedlichen Kombinationen entweder SPD, FDP oder DIE LINKE für ein „Ja“ zu einem Einspruch im Bundestag überzeugt werden. Das ist keine leichte, aber auch keine unlösbare Herausforderung. Der Blick fällt hier natürlich zuerst auf die von der LINKEN mitregierten Länder, weil DIE LINKE von der Abschaffung der Grundmandatsklausel potenziell negativ betroffen ist. In Thüringen (4 Stimmen) müsste also DIE LINKE gemeinsam mit den Grünen die SPD überzeugen, ebenso in Bremen (3 Stimmen). In Mecklenburg-Vorpommern (3 Stimmen) müsste DIE LINKE als kleinerer Koalitionspartner auf die SPD einwirken. In Berlin (4 Stimmen) könnte zum Zeitpunkt der Abstimmung bereits ein von der CDU geführter Senat im Amt sein, in dem die SPD zu überzeugen wäre. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Länder Sachsen (4 Stimmen), wo CDU und Grüne die kleinere SPD überzeugen müssten, und Brandenburg, wo ebenfalls Grüne und CDU die SPD überzeugen müssten, die dort aber die größte Koalitionspartnerin ist. Ein Pfad zu den nötigen 35 Stimmen ist also steinig, aber beschreitbar, wenn man es denn will. Entscheidend dürfte hier aber sein, ob es bei CDU, Grünen und auch den LINKEN die Bereitschaft gibt, diesen Weg zu beschreiten, der aber dann letztlich in Verhandlungen und einen Kompromiss (z.B. Beibehaltung der Grundmandatsklausel oder Absenkung der 5-Prozent-Hürde) münden müsste, dessen Beklagung und politische Skandalisierung dann aber deutlich schwieriger wäre. Erfolgversprechend wäre aber unter Umständen die Bildung eines ostdeutschen Länder-Blocks zur Änderung der Reform. Unmöglich, so viel steht fest, ist eine Änderung der Wahlrechtsreform über den Bundesrat nicht.

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Geschrieben von

Alexander Fischer

Alexander Fischer. Mensch. Historiker. Vater.

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