Das Wunder von Groningen begann 1977. Ein junger Lokalpolitiker, der linke Sozialdemokrat Max van den Berg, wollte seiner Stadt damals einen radikalen Umbau verpassen. Seine Partei, die Partij van de Arbeid, hatte gerade erst bei der Kommunalwahl einen überwältigenden Sieg errungen, nur knapp war sie an der absoluten Mehrheit gescheitert. Diese Machtfülle wollte van den Berg nutzen: Im Stadtparlament schlug er eine Vertreibung des Autoverkehrs aus Groningens Innenstadt vor. Sein Plan: Das Zentrum soll in vier Sektoren eingeteilt werden. Autofahrern soll es unmöglich gemacht werden, von einem dieser Sektoren direkt in einen anderen zu fahren. Nur der Umweg über einen Innenstadtring sollte fortan ermöglichen, von einem ins andere Innenstadtviertel zu gelangen. Van den Berg wollte mit einer gezielten Maßnahme das Autofahren unattraktiv machen. Freie Fahrt sollte es nur noch für freie Radler geben.
Die Empörung gegen seine Pläne war groß, auch in der eigenen Partei. Die Einzelhändler beschworen dramatisch den Untergang ihrer Geschäfte, vier Lokalpolitiker traten zurück, um dem Mittzwanziger den Wind aus den Segeln zu nehmen, am Ende aber wurde seine Idee doch Wirklichkeit. Der Stadt hat es gut getan: Groningen hat heute die beste Luft aller Städte in den Niederlanden, mehr als 60 Prozent aller Fahrten dort werden mit dem Fahrrad zurückgelegt, der Lärmpegel der 200.000-Einwohner-Stadt liegt auf dem Niveau eines Provinznests. Und die Geschäfte in der Innenstadt sind auch nicht pleite gegangen, sondern laufen hervorragend, weil die Menschen besonders gern zum Einkaufen ins ruhige Groningen pilgern. Demnächst soll auch noch der Busverkehr aus dem Stadtzentrum ausgelagert werden. Proteste dagegen? Gibt es nicht.
Von Groningen ist das Durchschnittsdeutschland weit entfernt. Gerade einmal elf Prozent macht der Radverkehr hier im Mittel aus. Dass sein Anteil dringend wachsen sollte, ist unter Stadt- und Verkehrsplanern unumstritten. Denn wenn die Bevölkerungszahlen der Städte weiter wachsen, wenn die Nachverdichtung mehr Wohnraum schaffen wird, es im urbanen Raum also noch enger wird, dann wächst die Gefahr eines Autokollapses.
Mit dem Rad bis in die Küche
Das ist nicht nur eine Frage der Schadstoffe, sondern auch des Platzes: Ein Auto benötigt zwölf Quadratmeter Straßenraum, ein Fahrrad kommt mit einem Zehntel aus. Und dass bei einem Zusammenstoß mit einem Auto jemand zu Tode kommt, ist sehr viel wahrscheinlicher als bei einem Fahrradunfall. Nichts Sinnvolles spricht also dagegen, den Fahrradverkehr zu stärken. Doch was muss geschehen, damit das auch passiert?
Eine Ausstellung im Frankfurter Architekturmuseum liefert die Antworten darauf tatsächlich sehr genau, Fahr Rad! heißt sie, der Untertitel: Die Rückeroberung der Stadt. Die Schau ist sehr sachlich, es gibt keine opulenten Architekturmodelle, stattdessen viele Fotos auf Gitterstellwänden und noch viel mehr Zahlenmaterial. Anhand von sieben Städten wie Groningen, Kopenhagen oder Karlsruhe sowie dem Ruhrgebiet wird erzählt, wie ein Wandel zu weniger Auto- und mehr Radverkehr auf dicht besiedeltem Gebiet gelingen kann. Außerdem werden modellhafte Einzelprojekte gezeigt: Ein junges Berliner Architektenkollektiv kämpft für eine „Radbahn“ unter den oberirdisch verlaufenden Gleisen der U1, in Utrecht entsteht ein Parkhaus für über 13.000 Räder, in Malmö wurde das ganz auf Fahrradfahrer zugeschnittene Wohnhaus Ohboy gebaut, in dem man sogar direkt mit dem vollbeladenen Lastenfahrrad in die eigene Küche gelangt.
Je länger man durch die Ausstellung streift, umso klarer wird, was die Radrevolution ins Rollen bringen könnte. Das wirklich, wirklich Wichtigste: Es braucht mehr Radikalität. Wer dem Gegendruck der Autolobby standhalten will, muss mutig planen. Was Groningen Ende der 70er Jahre vormachte, hat sich heute auch Oslo, bislang eine klassische Autostadt, auf die Fahnen geschrieben. Bis 2025 soll der Radverkehr, aktuell bei acht Prozent, mindestens verdoppelt werden. Die Osloer machen dafür ihr Stadtzentrum auf 1,3 Quadratkilometern gleich komplett zur autofreien Zone. Pakete dürfen bald nur noch per Lastenfahrrad ins Zentrum geliefert werden. In Oslo wurde auch ein neuer Standard für Radwege definiert: Mindestens 2,20 Meter müssen sie dann breit sein. Bekommt das Rad mehr Raum,muss aber erkämpft werden, dass die Autos Platz verlieren. Wer den Radumbau will, darf harte Debatten deshalb nicht fürchten.
Was es auch braucht, ist Tempo. Dem Mythos vom Auto als dem schnellsten Verkehrsmittel muss mit gut durchdachter Verkehrsplanung etwas entgegengesetzt werden. Im Kopenhagener Hafengebiet etwa ist 2014 die Cykelslangen, die „Fahrradschlange“, entstanden: Die 230 Meter lange, gekurvte Brücke schafft eine schnelle Möglichkeit für Radler, ein Hafenbecken zu überqueren. Die Wege von Fußgängern und Radfahrern wurden getrennt, auch das bringt mehr Beschleunigung. Und im notorisch von Staus geplagten Ruhrgebiet soll der 101 Kilometer lange Radschnellweg Ruhr RS1 für täglich 52.000 weniger Pkw-Fahrten sorgen. Regionale Firmen werben beim Recruiting bereits damit, dass ihr Standort an der Route liegt.
Dritter Punkt: Es braucht mehr Sicherheit. In Toronto, wo kürzlich ebenfalls ein groß angelegtes Projekt zur Stärkung des Radverkehrs angelaufen ist, hat eine Umfrage ergeben, dass etwa 60 Prozent der Stadtbevölkerung gerne aufs Fahrrad umstiegen, wäre die Unfallgefahr nicht so hoch. Verkehrsplaner setzen deshalb darauf, die einzelnen Verkehrsteilnehmer so gut es geht voneinander zu separieren. Auch hier war Groningen Vorreiter. Schon 1989 wurde dort an 28 Hauptverkehrskreuzungen das Prinzip „Grün für alle Radfahrer“ eingeführt. Die Radler erhalten dort gemeinsam grünes Licht. Während sie die Kreuzungen passieren, ruht der restliche Verkehr.
Genauso wichtig: Es braucht gute Gestaltung. Dort wo die neuen Radwege ästhetisch überzeugen, werden sie auch viel schneller akzeptiert. Im neuseeländischen Auckland ist der Lichtpfad Te Ara i Whiti entstanden: Eine frühere, innerstädtische Autobahnausfahrt glänzt nun in Magenta, Lichtsäulen markieren den Weg. Die Umgestaltung des Passeig de St Jean in Barcelona – vom von Autos dominierten Boulevard zum „shared space“, den sich Spaziergänger, Radler und Autofahrer gleichberechtigt teilen – erbrachte schmucke Stadtgärten und Ruhezonen im Rastermuster. In New York führt der Waterfront Greenway Radfahrer rund um Manhattan. Die 51 Kilometer lange Route wird von Grünstreifen umrahmt, überall wächst und blüht es, überzeugender kann das Zusammenspiel von nachhaltiger Verkehrsplanung und Landschaftsarchitektur kaum glücken. Mit dem Radumbau könnten die Städte nicht nur sauberer, sondern auch schöner werden. Bis es so weit ist, braucht es noch viel Überzeugungsarbeit und Aktivismus.
Info
Fahr Rad! Die Rückeroberung der Stadt Deutsches Architekturmuseum Frankfurt am Main, bis 2. September
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.