Ein alter Tanzsaal, dunkel, mit viel Patina, durch die Fenster fällt die Frühlingssonne. Kinder sitzen auf dem Dielenboden, Decken und Kissen wurden ausgebreitet, Kuscheltiere mitgebracht. Und jede Menge Plastikboxen, gefüllt mit vorgeschnittenen Äpfeln und Karotten.
Fredrik Vahle, das schlohweiße Haar zum Zopf gebunden, Cordhose in Beige, weites rotes Hemd, läuft durch die Reihen und bewegt sanft sein „Klingeling“. Ein Junge greift nach dem Windspiel, zieht daran, juchzt – und Vahle lächelt. Eingeladen zu dem Kinderkonzert hat der Ortsverein der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) Reinheim im Odenwald. An der Wand hängen Landschaftsbilder in goldenen Rahmen, alte Schwarz-Weiß-Fotografien und eine Kopie von Caspar David Friedrichs berühmtem Altarbild Das Kreuz im Gebirge.
Auf der Bühne stimmt Vahle, 76 Jahre alt, eines seiner bekanntesten Lieder an, Der Hase Augustin. Ein Percussionist und ein Bassist unterstützen ihn. Mit ihm singt Dietlind Grabe-Bolz, im Hauptberuf Oberbürgermeisterin von Gießen. Sie kennen sich durch ein Universitätsseminar. Seither begleitet sie Vahle bei Konzerten, Auftritten in Kitas und Schulen. Im Publikum sitzen vor allem Eltern um die 40 und Silverager – Großeltern, die mit ihren Enkelkindern gekommen sind – , die Vahles Lieder laut mitsingen. Als sie die Stücke zum ersten Mal hörten, waren sie selbst noch Kinder.
Von Cowboys und Rüben
1973 ist Die Rübe erschienen, Vahles erstes Album mit Kinderliedern, das er mit seiner damaligen Partnerin Christiane Knauf aufgenommen hatte. Die Platte war ein Affront. So wie Vahle und Knauf hatte zuvor noch niemand für Kinder gesungen: In den Liedern mit ihren eindeutigen politischen Botschaften, veröffentlicht auf dem linken Musiklabel Pläne, ging es um Mietwucher und Umweltschutz, gegen Aufrüstung oder die Angst vor den „Gastarbeitern“.
Christiane & Fredrik: Das war der Marsch der Achtundsechziger in die Kinderzimmer. Es war antiautoritäre Erziehung auf Vinyl. Das Album wurde ein Erfolg, die Stücke darauf, Der Cowboy Jim aus Texas, Der Säbelkaiser, Die Rübe und der Brecht-Song vom Fisch Fasch, wurden Klassiker der westdeutschen Kindermusik. Bis heute sind Vahles Konzerte fast immer ausverkauft.
„Komm herein“, sagt Vahle, der zu den Menschen gehört, die sich nicht gerne siezen lassen. Er redet auch selbst am liebsten jeden mit „Du“ an. Sein Haus liegt ganz am Ende des Dorfes, dahinter beginnen die Felder. Das Moos wächst auf der Gartenmauer, die Bäume sind Ende März noch kahl. Seit den 70er Jahren lebt Vahle hier in Salzböden, keine 20 Kilometer entfernt von Gießen, wo er Linguistik studiert hat, Germanistik und Politik und später auch selbst an der Universität unterrichtete. Gelegentlich hält er dort als Dozent Seminare in Sprachwissenschaft.
Mit Gießener Freunden hatte Vahle in Salzböden eine Wohngemeinschaft gegründet. Mittlerweile leben er und seine Partnerin, eine Malerin, zu zweit. Im Haus hat jeder von ihnen „sein eigenes Reich“, seinen Rückzugsort. Vahle bewohnt das obere Geschoss. Wenn man dort an die großen Glasfenster tritt, hat man einen weiten Blick über das Lahntal.
Er hat grünen Tee gekocht, eine Schale mit Cashewnüssen und eine mit Trockenpflaumen auf den Tisch mit den Mosaiken gestellt. „Ich fange mal ganz am Anfang an“, sagt er, und er wird das im Laufe unseres Gesprächs noch häufiger tun. Dann holt er aus, erzählt von den Reisen, die ihn nach Griechenland, Nicaragua oder Paraguay, zu anderen Musikern oder Sozialrevolutionären, geführt haben.
Er redet von den Gammlern auf dem Darmstädter Luisenplatz mit ihren Gitarren, die ihn in der Jugendzeit so magisch angezogen haben, oder von seinen Eltern, die Künstler waren, Inge und Fritz Vahle. 1956 sind sie mit ihm aus Stendal in der DDR nach Westdeutschland übergesiedelt, um in ihrer Kunst freier arbeiten zu können, in der Hoffnung, dort Karriere zu machen. Vahle deutet auf ein Bild, das neben dem Fenster am Esstisch hängt. „Das bin ich mit vier Jahren, von meiner Mutter gemalt“, sagt er. Er hat eine ruhige, eine beruhigende Stimme.
Auf einem flachen Holztisch in der anderen Ecke der Wohnküche liegen Instrumente, akkurat arrangiert: Klangschalen, Ukulele, Flöten, eine Handvoll Klöppel aus Holz. „Als Kind war ich kein musikalisches Talent, zur Musik bin ich hintenrum gekommen“, sagt Vahle. Sein Großvater hat zu Hause Klavier gespielt, ein Kindermädchen hat ihm die ersten Lieder beigebracht: Schlager, Moritaten, alte Stücke aus der Lüneburger Heide, Lieder „über Soldaten, denen beide Beine abgeschossen waren und so was“. So sonderbar diese Lieder auch waren, sie haben den Jungen in ihren Bann gezogen. „Das Bedürfnis, für andere zu singen, war ganz früh da.“
Provokation mit 150 Watt
Seine erste Band gründete er mit einem Freund. Sie waren beide fasziniert von amerikanischen Singer/Songwritern wie Pete Seeger und Woody Guthrie, interessierten sich aber auch für den griechischen Sänger Mikis Theodorakis, für Musik aus Lateinamerika, Spanien. In Athen wären sie einmal, zur Zeit der Militärdiktatur, beinahe im Gefängnis gelandet. Von einem Bekannten hatten sie von einer Bar gehört, in der sie spielen konnten, doch der vermeintliche Auftrittsort stellte sich als Bordell heraus. Die Inhaberin scheuchte die Musiker fort.
Frustriert zogen sie zum Omonia-Platz, auf dem sie Donovans Antikriegshymne Universal Soldier anstimmten. Bald erschienen Geheimpolizisten, die die beiden abführten. Auf dem Weg ins Revier flüsterte ihnen ein Mann, der Deutsch sprach, zu: „Macht auf Folklore, tut so, als ob ihr nicht wisst, was das Lied bedeutet.“ „Das hat uns gerettet“, sagt Fredrik Vahle.
Mit seinem Freund Ulrich Freise war er auch bei einer Truppe engagiert, die sich Aktionskreis für aufgelöste Liedkultur nannte. Sie gehörte zum Gießener Ableger des SDS, des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds, und in ihrer Musik ging es ihnen um Provokation. „Ich habe Texte von Erich Fried ins Mikro gebrüllt, Ulli hatte seine Waldzither an eine 150-Watt-Anlage angeschlossen“, erinnert sich Vahle. „Das war infernalischer Lärm, eine Mischung aus Agitprop mit zarten und lyrischen Passagen.“ Die ersten Kinderlieder spielten er und Christiane Knauf bei einer Italienreise, das war Anfang der 70er Jahre.
Sie sind dort auf eine freie Theatergruppe getroffen, die sie zu einem Festival nach Berlin einlud. Der Auftritt wurde ihr erstes großes Konzert. Bald darauf kam die Anfrage vom Label Pläne, das mit ihnen eine Platte produzieren wollte.
Es habe ihn begeistert, dass er in seinen Liedern das Soziale und Politische mit der Welt der Poesie, der Mythen und Märchen verbinden kann. Die strammen Arbeiterlieder, die viele seiner damaligen Genossen als einzige wahre Form des Protestsongs gelten ließen, waren seine Sache nicht. „Mein politisches Engagement kam vom Ethischen, vom Literarischen und vom Geiste her: Das war von Bert Brecht, Heinrich Heine und Federico García Lorca geprägt.“
Mit seinen Liedern war Vahle immer ein Gegenentwurf zu Rolf Zuckowski, dem anderen erfolgreichen westdeutschen Kinderliedermacher. Bei Zuckowski, dessen bekanntester Song wohl der Ohrwurm In der Weihnachtsbäckerei ist und der für Peter Maffay später die Stücke zum Musical Tabaluga schrieb, erscheint die Welt bunt, leicht, wie ein Vergnügen. Fredrik Vahle singt auch von den Schattenseiten, von Arbeitslosigkeit, Armut, Rassismus oder von autoritären Eltern. „Lieder, die die Dinge beim Namen nennen, haben es schwerer“, sagt er. Trotzdem war seine Anhängerschaft immer groß, konnte er Jahr für Jahr neue Alben veröffentlichen. Sicher hat ihm geholfen, dass seine Lieder so eingängig sind. Melodiös, mit Refrains, die jeder mitsingen möchte. Mit der Zeit sind die Songs auch sanfter und verspielter geworden, weniger provokativ.
Selbst seine Sympathie für die DKP hat Vahles Popularität nie geschadet. „Ich muss da nichts bereuen“, sagt er. „Ich war nie Mitglied der Partei und habe, allein schon wegen meiner eigenen Geschichte, die DDR-Begeisterung nie geteilt.“
Es sei der Einsatz für den Umweltschutz gewesen, der ihn für die Kommunisten einnahm. „Die DKP waren die Grünen, als es die Grünen noch nicht gab“, sagt er. Vahle steht zu seinem Engagement – und er wünscht sich eine selbstbewusstere Linke. „Wir sollten uns mehr an den amerikanischen Demokraten orientieren“, sagt er. „Zum Beispiel an so etwas Großartigem wie dem Green New Deal von Alexandria Ocasio-Cortez: Darüber reden wir hier viel zu wenig.“
Seit mehr als 45 Jahren gibt Vahle seine Konzerte. Haben sich die Kinder verändert, seit er damit angefangen hat? Ist an all den Erzählungen von den übervorsichtigen Helikoptereltern etwas dran? „Es ist tatsächlich so, dass Kinder heute viel behüteter aufwachsen, die sozialisatorische Fuchtel ist spürbarer geworden“, sagt Vahle. „Eigenartigerweise war die Erziehung bei uns damals strenger und moralischer, in der DDR auch politischer. Trotzdem hatten wir viel mehr Freiheiten als die Kinder heute.“ Wenn er dann aber vor ihnen steht und seine Lieder spielt, seine Bewegungsübungen mit ihnen macht, seien die Kinder noch immer so eigensinnig, neugierig und mitgerissen wie in den Anfangstagen seiner Karriere. „Kinder sind ein wunderbar anarchisches Publikum“, sagt Vahle. „Sie kümmern sich nicht um Applausrituale, sondern agieren einfach so, wie ihnen zumute ist.“ Wenn sie auf seine Musik reagieren – und sei es mit einem lauten Schrei –, ist der Auftritt für ihn gelungen. „Ich habe noch nie auf einem Konzert zu den Kindern gesagt: Seid mal still.“
Vahle selbst hat keine Kinder. „Das irritiert viele“, sagt er. „Die meisten halten mich für jemanden, der mindestens vier eigene Kinder hat.“ Für seine Arbeit als Musiker habe das sogar sein Gutes, davon ist er überzeugt. „Ich habe den Draht zu den Kindern auch deshalb niemals verloren, weil ich nicht durch die oft ermüdenden elterlichen Erziehungsphasen durchgehen musste“, sagt er. Mit Mitte 70 findet er immer noch Spaß an Konzerten. „Ich habe mir kein Limit gesetzt, wann ich damit aufhöre.“ Im Reinheimer Tanzsaal spielt er gegen Ende seines Auftritts das Lied von Ayşe und Jan, das 1981 entstanden ist. Bei den Aufnahmen haben damals Kinder aus einer Salzbödener Kita den Chor gesungen.
Ein Mädchen, wohl noch keine drei Jahre alt, steht mitten im Lied auf, wiegt den Körper hin und her. Die Kinder im Saal sind gebannt, das Tuscheln ist längst verstummt. Das Stück handelt von einem deutschen Jungen und einem Mädchen, deren Familie aus der Türkei stammt. Sie lernen sich kennen, beobachten sich und spielen bald miteinander, werden Freunde. Doch Eltern und Geschwister stellen sich quer. Ayşe und Jan halten gegen die Widerstände zusammen, können die Vorurteile abbauen. Sogar Jans Vater sieht am Ende ein, dass er mit seiner Ablehnung gegen die eingewanderte Familie falschlag.
„Von Kindern kann man was lernen, so hört die Geschichte auf“, heißt die letzte Strophe des Liedes. Es ist noch immer seine Botschaft.
Mit der Kaffeekanne gegen die AfD
Ein kaputtes Militärflugzeug schmückt das Cover des Debütalbums Die Rübe von Fredrik Vahle. „Für den Preis von solchem Scheiß könnte man drei Schulen bauen“, kommentiert ein Lehrer im grauen Anzug und mit rotem Schlips die Zeichnung. Provokation! Einen „feministischen Shitstorm“ erntete Fredrik Vahle einmal für das Lied Katzentatzentanz: „Kam der Kater zu der Katze, leckte ihr ganz lieb die Tatze / streichelt sie und küsst sie sacht, und schon hat sie mitgemacht.“ Vahle wurde vorgeworfen, er stelle Machotum und Anmache in Kinderliedern dar. Das Lied wurde allerdings ein Dauerhit in der Sendung mit der Maus (das gleichnamige Kinderbuch erreichte mehr als 20 Auflagen). Im Laufe seiner Karriere hat Fredrik Vahle mehr als 40 Alben veröffentlicht. Viele seiner Stücke (wie etwa Anne Kaffeekanne) gehören zum Kanon des westdeutschen Kinderliedes.
Vahles Bewegungslieder stehen in vielen Kitas auch heute noch auf dem Programm. Der Musiker tritt bei Demonstrationen und Kundgebungen auf, in Gießen spielte er zuletzt bei einem Konzert gegen die AfD.
Dass der Stendaler Fredrik Vahle, geboren 1942, für viele Musiker und Musikerinnen ein wichtiger Einfluss war und ist, zeigt das gerade erschienene Album Zugabe (Argon Hörbuch). Darauf covern unter anderem Soulsänger Max Mutzke, die Rapper von Deine Freunde, Kabarettistin Maren Kroymann oder die früheren Ton-Steine-Scherben-Musiker Kai Sichtermann und Funky K. Götzner seine Lieder. Im Oktober erscheint seine Autobiografie Schräge Lieder, schöne Töne – Erinnerungen und Denkausflüge zwischen Anne Kaffeekanne und Cowboy Jim (Gütersloher Verlagshaus).
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