Die israelischen Kampfjets machen einen ohrenbetäubenden Lärm, wenn sie tief über Gaza hinweg fliegen. Beim Abschuss ihrer Raketen zischt es scharf, dann folgt die Explosion. So geht das seit dem 14. November: Angriffe aus der Luft, vom Land und vom Meer, 1.350 Ziele hat die israelische Armee nach eigener Aussage bis Anfang der Woche bombardiert. In den ersten sechs Tagen dieser Offensive starben 105 Palästinenser, darunter 28 Kinder und elf Frauen. „Der schlimmste Moment ist dann gekommen, wenn wir die Jets hören, denn es könnte jeden von uns treffen“, sagt Sharhabeel Al Zaeem. Er ist Rechtsanwalt in Gaza-Stadt und gehört zu den wenigen, die ein unterkellertes Haus haben.
Eigentlich wolle er bei jedem Angriff die Augen verschließen. Stattdessen schaue er so ruhig wie möglich seine Kinder an – aus Angst, es könne vielleicht das letzte Mal gewesen sein. Mehr als den Schutzeraum im Keller kann er seiner Familie nicht bieten. „Meine kleine Tochter hat mir die schwierigste Frage meines Lebens gestellt: ‚Papa, sind wir hier sicher?‘ “, erzählt Al Zaeem. „Wenn ich Ja antworte, lüge ich, wenn ich Nein sage, kann ich ihr kein Gefühl von Sicherheit geben.“ Es sei schrecklich, sich so ohnmächtig zu fühlen. Auch das Radio sei für ihn und seine Frau Hala ein Dilemma – die Meldungen von Einschlägen, Toten und Verletzten würden sie in Panik versetzen. Es abzustellen bedeute jedoch, von der Welt draußen abgeschnitten zu sein.
Maximal acht Stunden
Die Familie Al Zaeems gehören zur Mehrheit der Bewohner in Gaza, die den Extremisten beider Seiten schutzlos ausgeliefert sind. Am Montag hat Al Zaeem erstmals seit Beginn der Luftangriffe das Haus verlassen, um den leeren Kühlschrank aufzufüllen. Vor allem hat er für Trinkwasser gesorgt, da das Leitungswasser in Gaza vom Meer versalzen ist. Schuld daran ist die Wasserknappheit auf einem Territorium, das nur wenig größer als die Fläche der Stadt München ist. Pro Quadratkilometer leben hier im Schnitt 4.750 Menschen. Die Bevölkerungsdichte führt zwangsläufig dazu, dass die israelischen Angriffe stets auch zivile Opfer kosten. Größtenteils rekrutieren sich die 1,7 Millionen Einwohner aus Flüchtlingen, die zumeist in den Baracken der acht Flüchtlingslager leben. Ohne den Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge UNRWA könnten viele von ihnen gar nicht überleben. Mindestens 30 Prozent – der US-Geheimdienst CIA ging 2010 sogar von 40 Prozent aus – aller Menschen in Gaza sind mangels Infrastruktur arbeitslos, 38 Prozent leben unter der Armutsgrenze.
Dass die Bewohner überdies von Zäunen eingeschlossen sind und Gaza nicht verlassen dürfen, hat viel zur depressiven Stimmung und Radikalisierung beigetragen. Die israelische Operation Gegossenes Blei zum Jahreswechsel 2008/09, bei der 1.400 Palästinenser ums Leben kamen, hatte unvorstellbare Zerstörungen angerichtet. Davon war bis zur jetzigen israelischen Offensive oberflächlich nicht mehr viel zu sehen. Die Trümmer waren beseitigt, die Straßen frisch asphaltiert, neue Lokale sowie Supermärkte – eingerichtet nach modernen Standards – entstanden. Ein dünne Schicht Superreicher ließ so manche Immobilienpreise in die Höhe schießen. In diesem Jahr gab es in Gaza-City an die tausend Baugenehmigungen für mehrstöckige Häuser.
Der Krieg traf die Menschen insofern völlig unvorbereitet. Lebensmittel hatten sie nicht gehortet, als sie in ihren Häusern Zuflucht suchten. Einstweilen gibt es in den wenigen geöffneten Läden noch ausreichend Nahrungsmittel, doch das kann sich schnell ändern. Da jeder Gang auf die Straße gefährlich ist, bleiben die meisten Bewohner daheim, die 245 UNRWA-Schulen sind geschlossen. Trotz der kühleren Temperaturen und des Kriegslärms lassen die Menschen die Fenster geöffnet, damit das Glas bei den Erschütterungen nicht zerspringt. Seit 2006 das Elektrizitätswerk zerstört wurde, müssen sie sich täglich mit maximal acht Stunden Strom begnügen und ihren Alltag entsprechend organisieren. Stromausfälle sind nichts ungewöhnliches. Nachdem die israelische Armee auch die Tunnel bombardiert hat, durch die Waren und Waffen aus Ägypten geschmuggelt werden, droht das Benzin auszugehen, mit dem die Generatoren betrieben werden. Von den Konsequenzen für die medizinische Versorgung ganz zu schweigen.
Die Kinder verstummen
„Bei den Verletzten werden leichte Splitterwunden und besonders die psychologischen Schäden nicht mitgezählt“, so Palästinas Botschafter in Deutschland, Salah Abdel-Shafi. Er stammt aus Gaza. Auch in der Nähe seines Elternhauses fielen Bomben. „Diese neue Angriffswelle gibt der islamistischen Führung in Gaza massiven Auftrieb“, da ist sich Abdel-Shafi sicher.
Die Menschen waren der Hamas überdrüssig geworden, die sie – wie zuvor die Palästinensische Autonomiebehörde – als machtsüchtig und korrupt empfanden. Doch nun kann sich die islamistische Bewegung aufs Neue als Widerstandskraft profilieren. Selbst Fatah-Mitglieder, eigentlich die Konkurrenz, demonstrieren nun Einigkeit nach dem klassischen Muster: Im Krieg ist der Feind meines Feindes mein Freund. Die Unterstützung für Hamas wächst wieder, und die Bevölkerung rückt zusammen. Mancher in Gaza-City befürchtet, dass sich Hamas am Ende zum Sieger dieses Schlagabtauschs erklärt und im Konsens mit einigen arabischen Regierungen einen hart regierten Quasi-Staat Gaza ausruft, während die Westbank weiter in der Schwebe bleibt. Dass es diese Bewegung vermag, auch Tel Aviv und Beer Sheva zu beschießen, und inzwischen fast 900 Raketen abgefeuert hat, verringert bei vielen Palästinensern das unerträgliche Gefühl ihrer Ohnmacht gegenüber Israel.
„Ohnmacht ist eine Triebfeder für Gewalt“, sagt der Psychologe Eyad al-Sarraj, der sich wie viele andere politisch nie von einer Strömung vereinnahmen ließ. Er leitet in Gaza-Stadt das psychologische Zentrum Gaza Community Mental Health Center. Der Krieg lässt ihn nachts nicht schlafen. Unter Schlaflosigkeit leiden auch und vor allem die traumatisierten Kinder, die in seine Klinik kommen. Sie fühlen sich verunsichert, ziehen sich zurück, machen ins Bett, verweigern das Essen und verstummen angesichts des Erlebten.
Etwa 15 Prozent aller Kinder Gazas leiden laut al-Sarraj am post-traumatischen Stress-Syndrom, weitere 30 Prozent an anderen psychischen Krankheiten. „Israelis haben das Recht, sich zu verteidigen“, sagt er. „Sie haben aber nicht das Recht, eine ganze Bevölkerung ihrer Freiheit zu berauben.“ Die Gewalt von Extremisten auf beiden Seiten hält er wie die meisten Menschen für eine Sackgasse: „Wir müssen gemeinsam an die Zukunft denken.“ Er erinnert an die Essenz palästinensischen Lebens, wie sie sich besonders in Gaza zeige: „Wir haben große Angst. Doch wir sind auch widerstandsfähig. Dieser Landstrich ist sehr arm, zugleich sind wir gastfreundlich und warmherzig.“
Auch der Anwalt Sharhabeel Al Zaeem will für sich und seine Familie nur eins: in Friede und Würde leben. Und zwar an der Seite Israels.
Alexandra Senfft ist freie Autorin. Ihr letztes Buch erschien 2009 und trägt den Titel Fremder Feind so nah. Begegnungen mit Palästinensern und Israelis
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