Der Plattensee oder Balaton, wie er im Ungarischen heißt, ist „für mich die Riviera“ – so heißt es in einem bekannten ungarischen Song. Und das empfinden nicht nur Ungarn so. An den nicht mal drei Meter tiefen See zog es bis 1989 Menschen aus den verschiedensten Ostblock-Ländern. Der See ist dabei aus der deutschen und ungarischen Geschichte ebenso wenig wegzudenken wie die Berliner Mauer oder der Eiserne Vorhang. Der Balaton war ein Ort, an dem schon vorher möglich war, was später erst offiziell ging: die deutsche Einheit.
Zwischen 1961 und 1989 lebten jeweils über die Dauer von zwei Monaten etwa sechs Millionen Touristen, vor allem Deutsche, am Ufer und grillten sich in der Sonne. Die Motive der deutschen Urlauber vor der Wende waren dabei verschieden: Es gab die typischen Familientreffen zwischen West- und Ostdeutschen am Seeufer. Und es gab die Rocktouristen, die wegen der Beat-Musik kamen (in der DDR gab es seit 1965 ein Beat-Verbot). Manche von ihnen verliebten sich in Westdeutsche und flohen von hier gleich ganz in den Westen.
Seit den späten Siebzigern standen Urlauber auch unter Beobachtung der Stasi. Die Mitglieder der sogenannten Balaton-Brigade sammelten, filmten und fotografierten am Strand, an den Essbuden oder vom benachbarten Ferienhaus aus, um Fluchtpläne rechtzeitig zu entdecken und zu verhindern. Trotz der kontroversen Vergangenheit kommen die Deutschen auch heute noch an den Plattensee, wenn auch nicht mehr in diesen Scharen.
Billig und ruhig
Es sind Balaton-Fans wie Arpad Farkas, ein 38-jähriger Anwalt aus Eschweiler. Seit seinem 9. Lebensjahr, erzählt er, mache er Urlaub am „ungarischen Meer“. Er hat ein Ferienhaus am Nordufer geerbt. Für ihn seien aber vor allem seine Kindheitserinnerungen der Grund, jedes Jahr hierherzukommen: „Für uns war es als Kind hier immer schön, wir haben jeden Tag am See verbracht.“
Wie hat sich seiner Meinung nach der Balaton verändert? „Vor der Wende habe ich mein Umfeld ganz anders wahrgenommen, ich war damals aber auch noch viel jünger. Die Menschen in Ungarn wirkten damals gelassener und lebenslustiger als nach ’89. Es ist aber nicht nur die Nostalgie, weswegen ich mich entschieden habe, das Haus zu behalten. Ich bin einfach auch gerne am Balaton und in Südungarn.“
Am Nordufer in einem Restaurant in Badacsony trifft man die nächsten Plattenseebesessenen: Silvia, Steffi, Mario, Gerald und Marcel kommen aus dem Mansfelder Land in Sachsen-Anhalt und machen schon seit 16 Jahren Urlaub am selben Ort, im selben Ferienhaus am Balaton.
Sie hörten von Nachbarn, die schon vor der Wende in Ungarn ihren Urlaub verbrachten, Legenden über ungarische Gastfreundlichkeit und den schönen See. Aber die Mansfelder kamen erst nach ’89. Der Grund? „Es ist billig, schön und ruhig.” Deshalb bleiben sie dem Balaton treu. Das Wetter sei berechenbar, die Bevölkerung sehr freundlich. „Man findet auch immer einen Weg, sich zu verständigen, selbst wenn man des Ungarischen nicht mächtig ist. Und viele sprechen hier Deutsch“, erzählen sie. Ihre Vermieterin bemühe sich auch seit Jahren, ihnen ein paar Worte Ungarisch beizubringen.
Vor zehn Jahren kamen noch große Massen im Sommer. Der See sowie all die Bade- und Urlaubsorte drum herum waren darauf eingestellt. Jetzt gibt es am Nordufer deutlich weniger Touristen, es ist nicht mehr so überfüllt.
Ein Muss sind für die Gruppe aus Sachsen-Anhalt jedes Jahr die Restaurants, der Markt mit frischen Gemüsesorten von Kleinerzeugern, die Weinfeste in den Dörfern. Der See selbst ist ihnen ironischerweise weniger wichtig. Auch der 28-jährige Sohn Marcel kommt jedes Jahr mit, wenn er Zeit hat. „Ich bin ein ruhiger Typ, Urlaub ohne Stress ist wichtig für mich. Ich brauche kein Hotel oder so, mir reicht einfaches Essen und ein Strand.“ Auch Discos reizen ihn kaum: „Ich will einfach von der Arbeit weg und brauche die Hektik eines Clubs im Urlaub gar nicht“, sagt er.
Peter und Rosmarie aus Bayern sind seit der Wende bayerisch-ungarische Winzer. Sie haben bei Badacsony ein Weingut gekauft und fahren nun seit 18 Jahren sechs Mal im Jahr an den See: für eine Woche Arbeitsurlaub. Peter kennt Ungarn noch aus der Gulasch-Kommunismus-Zeit. Während er von seinem Weingut erzählt, kritisiert er immer wieder die ungarische Bürokratie. Er könne mehr als ein Buch schreiben über seine Erfahrungen, sagt er. „Es gibt dort noch die alten Formulare aus der Russenzeit, dann kam die Zeit der Selbstständigkeit, dann die EU. Die Ungarn haben alles in einen Topf geschmissen und umgerührt – und es ist ein Bürokratismus entstanden, den keiner mehr beherrscht. Einen Stromzähler für das Kelterhaus zu bekommen, hat ein Jahr gedauert. Das ist so eine Mentalitätssache, an die können wir Deutsche uns nicht gewöhnen. 100 Deutsche können 10 Millionen Ungaren nicht umkrempeln.“ Ein Teil seiner Hausfassade, sagt er, wurde in einem anderen Gelbton gestrichen. Weil die Farbe ausgegangen war. Für den Maler war Gelb gleich Gelb. Er schüttelt fassungslos den Kopf.
Auch die Ossis kommen bei dem Bayern nicht glimpflich davon. „Sie kommen nicht aus Dankbarkeit oder Nostalgie, sondern weil sie die Trabis gegen BMWs getauscht haben. Das wollen sie jetzt herzeigen“. Doch viele von denen, die jahrelang an den Balaton gefahren sind, kommen gar nicht mehr, sondern sie reisen jetzt in die Dominikanische Republik mit ihren All-inclusive-Hotels. Nach der Wende begann der Verfall des Ferienhaustourismus, bis heute sieht man in der Gegend mehr Zu-verkaufen- als Zimmer-frei-Schilder. Im Herbst ist es hier sehr ruhig, also müssen die touristischen Betriebe lernen, dass sie mit zweieinhalb Monaten Geschäftszeit im Jahr auszukommen haben. Nicht alle kommen damit klar.
Lieber Gulasch als Ganskeule
Zsolt Tompos, Sohn einer Gastronomenfamilie und Restaurantbesitzer seit den Siebzigern, sieht es so: „Die Verhältnisse seit der Wende und die Touristenzahlen haben sich enorm verändert. Vor der Wende waren etwa 70 Prozent der Gäste Deutsche, heute sind mehr als zwei Drittel der Touristen Ungarn. Und die Deutschen, die jetzt kommen, sind schon früher hier gewesen. Sie wollen Nostalgie, und natürlich wollen sie es ebenso billig wie damals. Diese Schicht, die zu uns an den Balaton kommt, ist nicht wohlhabend.“
Die meisten Deutschen am Balaton würden höchstens zweimal pro Woche ins Restaurant gehen, sonst kauften sie im Supermarkt und speisten zu Hause im Ferienhaus, erzählt Tompos. Viele jammerten immer nur, dass in Ungarn alles teurer geworden sei. Sie hätten gerne die Zustände von damals zurück. Sogar auf der Speisekarte: „Neuerungen wie Ziegenkäse vom Grill oder konfitierte Gänsekeule kannst du vergessen, wenn es um die Deutschen geht.“
Manchen Ostalgie-Touristen reicht es, wenn sie ihr Wiener Schnitzel und ihren Gulasch auf der Speisekarte finden, zusammen mit dem halbsüßen „Grauen Mönch“, einem Pinot Gris aus der Region Süd-Danubien. Es gibt aber auch Gäste, die gern komplexere Weine trinken. Der ungarische Weintourismus erlebt zumindest gerade eine kleine Renaissance an beiden Ufern des Plattensees.
Und auch auf anderen Gebieten sollen mehr Menschen angelockt werden: Segeln wird immer populärer, Festivals wie „Balatonsound“ in Zamárdi sollen die Jugend anlocken. Der Kitsch, den der Massentourismus mit sich gebracht hat, verschwindet so nach und nach. Der See soll ein geschärftes eigenes Profil erhalten und auch für Kulturtouristen interessant werden. Zirkus- und ungarische Folklore-Vorführungen werden durch Kunstmuseen, Galerien und Freiluftbühnen ersetzt. Oder wie eine ungarische Weisheit lautet: Was man am Hafen verliert, gewinnt man doch am nächsten Zoll.
Agnes Szabó ist ungarische Journalistin. Sie fährt seit ihrem dritten Lebensjahr an den Balaton. Den See kennt sie von beiden Ufern, zu jeder Jahres- und Tageszeit
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