“Gott schuf den Tag, und wir schleppten uns hindurch.”

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Wer wie ich auf den neuen Simon Borowiak wartet, kann sich die Zeit gern mit einem „jungen, wilden Flamen“ vertreiben, der mit neununddreißig Jahren nicht mehr SO jung ist, sich naturgemäß aber gegen den deutschen Rückseitentext eines seiner Bücher („Gottverdammte Tage auf einem gottverdammten Planeten“) nur bedingt wehren kann, zumal etwas dran zu sein scheint an der These, dass die Forty-Somethings die Wilden des 21. Jahrhunderts sind – aber dazu irgendwann mal.

Dimitri Verhulst schreibt Bücher, die die Sammlung Luchterhand sehr schön herausgibt, mit Prägedruck und feinen Motiven und Farben. Wer greift nicht nach einem Buch, das einen Blumenstrauß in einer Bierflasche vor weißer Blümchengardine zeigt und „Die Beschissenheit der Dinge“ heißt? Na, ich weiß, wer. Aber – ich schon.

Von Rainer Kersten aus dem Niederländischen in ein das Niederländisch nicht vergessen lassendes Deutsch übersetzt (Gemeint ist das Gefühl des Verstehens, Sie können Verhulst gern mal youtuben – ein Gewinn!), wickeln Verhulsts Bücher beim Lesen einen (mich) binnen weniger Sätze in ein Wattebäuschen, das am rechten hinteren Ende eines Güterzuges hängt, der nie an irgend einem Bahnhof hält. Harte Sätze, hartes Leben, sehr viel Alkohol und doppelt soviel Seele, weiche Beobachtungen, zarteste Beschreibungen.

„So lange war es noch nicht her, dass Martine, während sie den von ihrem Mann geschleuderte Blumentöpfen und Suppentellern auszuweichen versuchte, von einem anderen Leben geträumt hatte. Vielleicht war das die ganze Ehe hindurch ihre Rettung gewesen, und sie läge ohne die Gabe, sich an und zu an einen anderen Ort zu phantasieren, längst auf dem Selbstmordacker neben dem Friedhof – und das ist nicht metaphorisch gemeint. Absolut nicht. [...] Über viele Jahre hatte sie sich Abend für Abend am Dachbalken hängen sehen. Manchmal war sie selbst darüber erstaunt, dass sie fünf Minuten darauf in der Küche die Kartoffeln wieder ganz normal schälte, spülte und auf den Herd stellte, so wie jeden Tag, alles im Dienst eines Manns, der zuletzt doch wieder nur angetrunken nach Haus kam und außerdem viel zu spät , um ihre gediegene Mahlzeit noch warm hinunterzuschlingen.“ (In: „Die letzte Liebe meiner Mutter“)

Die Konflikte in den genannten Büchern werden nicht ausgebreitet und analysiert, gar thematisiert, sondern bebildert, indem erzählt wird, was ist. Die Mutter des 11-Jährigen, die sich zwischen der Liebe zu ihrem Sohn und der zu ihrem Mann entscheiden muss und letzterem den Vorzug gibt. Der verlorene Sohn, dem Vater, Onkel und Brüder sehr überzeugend demonstrieren, dass wer verloren ist, immer noch am Tresen entschieden wird. Und schließlich der Mensch, das getriebene Etwas, ein „es“, deren Geschichte und Entwicklung wir zu kennen glauben und Dank Verhulst, der das Licht anknipst, mit klaren Kanten und scharfen Kontrasten sehen.

„Es hängt ein paar Rinderstücke an eine Stange, und wo das Fleisch zuletzt verschimmelt, baut es ein Krankenhaus. Dorthin also, wo sich die Fäulnis am langsamsten verbereitet. Hut ab! Es wirft Schwefel und Kampfer in Töpfe und Tiegel, macht Pasten aus Quecksilber. Eine quadratische Gleichung jagt die nächste. Getrieben von einer neuen Welle von Wissbegiere, untersucht es die Folgen einer dicken Nase auf den Charakter, die Zusammenhänge zwischen gerunzelter Stirn un möglichem Ekel vor gekochtem Kohl. Alles, was sich anpacken lässt, wird auch angepackt – inklusive ungreifbarer Dinge, wie zum Beispiel Träume. Auch dieses Gebiet wird es einmal vollständig abgegrast haben. Warum sollte es so viel Energie in all das Träumen stecken, wenn sich all die Träume nicht deuten lassen?“ (In: „Gottverdammte Tage auf einem gottverdammten Planeten. Eine Beschwerde.“)

Mit Spannung dürfen die Themen erwartet werden, denen sich Verhulst in Zukunft widmet. Menschen, so scheint es, gilt sein besonderes Interesse. Seinen Blick auf deren Geschicke versteckt er hinter einem rufenden Ton, der oft überraschend leise und noch öfter sehr lustig ankommt. Es wird hingelangt, nicht belehrt, kein Ausweg aufgezeigt – und es zählt nur das, was ist. Sehr sympathisch. Bitte mehr davon!

Blog-Überschrift aus: "Die Beschissenheit der Dinge".

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Geschrieben von

Amanda

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