Der neue Wagner-RING an der Staatsoper Unter den Linden

Premierenkritik Christian Thielemann dirigierte statt Daniel Barenboim, und Dmitri Tcherniakov scheiterte mit seinem Regiekonzept

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Die Götterdämmerung ist, schon vom Zeit- und Kraftaufwand her, die ungleich verschleißendste und (für den Rezipienten) strapaziöseste aller vier RING-Opern. Allein der erste der drei je durch eine Pause voneinander abgetrennten Handlungsbrocken - bestehend aus dem Nornen-Terzett, dem Verabschiedungsduett von Siegfried & Brünnhilde, der Rheinfahrt sowie Landung Siegfrieds zu/ bei den Geschwistern Gibichung, der Hagen-Wacht am Rhein, Waltrautes schwesterlichem Sturzflug zu Brünnhilde und Brünnhildes Vergewaltigung durch den vermeintlichen Gunther (der in Wahrheit Siegfried ist) - dauert noch länger als der ebenfalls nicht "kurzweilige" letzte Akt der Meistersinger inkl. Festwiese; im aktuellen Fall benötigte der höchstwahrscheinlich nicht allein für seine zelebrierten Ausgewalztheiten in die Musikgeschichte eingehende Christian Thielemann sage und schreibe 2 Stunden und 7 Minuten für den ersten Gö.-Akt, und das muss ihm erst mal einer nachmachen.

Ja und auch kraftaufwändig, wie schon angedeutet, ist das Riesending dann allemal. Das Ganze steht und fällt dann allerdings mit den drei Hauptprotagonisten: einer Sängerin (Brünnhilde) und zwei Sängern (Siegfried, Hagen); alle anderen sind, und obgleich sie auch nicht Nebensächliches zu singen und zu spielen haben, eigentlich nur mit (3 Nornen, Waltraute, Gunther, Gutrune, Alberich, die Rheintöchter). Aber sobald die eine und/ oder die beiden anderen stimmlich nicht auf der Höhe wären oder schlimmstenfalls versagen sollten, würde halt die Götterdämmerung, rein musikalisch, scheitern können oder sogar scheitern müssen - Anja Kampe und Andreas Schager wie auch Mika Kares sorgten gestern Abend unerbittlich dafür, dass dem nicht so war - wobei bei Kampe nach dem 2. Akt befürchtet werden musste, dass sie's konditionell am Ende doch nicht packte, weil sie permanent gegen das viel zu laut auftrumpfende Orchester anzusingen hatte, was mitunter fast in pure Schreiereien auszuarten drohte. Schager sowie Kares wussten da leicht besser mit den Stimmkräften zu haushalten.

Als schlussendlich gescheitert muss das Grundkonzept von Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov gelten; gefühlte 99 Prozent des Publikums lehnten die Inszenierung ab; ein Buhorkan, wie ich ihn selten so erlebte; doch egal... War ich bis Siegfried noch bereit, die bis dahin von ihm sehr konsequent verfolgte und ver-handelte Idee mit jenem "Forschungszentrum E.S.C.H.E." mitzutragen, taten mich dann gestern nach geschlagenen 6 Stunden in der Staatsoper Unter den Linden alle Geisterlein verlassen, und ich war mir plötzlich voll bewusst, das es wohl niemals hätte richtig aufgeh'n können, weil ganz einfach der Kausalzusammenhang zwischen der Ursache und seiner Wirkung - in der Götterdämmerung nach Tcherniakovs Lesart - einer dreisten Ausblendung zum Opfer fiel: Der Grundkonflikt des RINGs ist doch letztendlich der, dass Alberich, weil er wegen seines geraubten Goldes all diejenigen, die nach ihm nach dem Golde gierten, mit dem "Liebesfluch" belegt und ergo diese Fluchbeladenen sich gegenseitig, um ans Gold (den sprichwörtlichen Gold-Ring) 'ranzukommen, auszuschalten trachteten, und Mord- und Totschlag nähmen also unumkehrbar ihren Lauf... Ja und bei Tcherniakov gibt's halt weder Gold noch Gold-Ring; aber auch beim allerliebenswerten Unterhalter Valentin (Bayreuth 2022) war das ausgeblendet, wobei er sich hinsichtlich seiner genialischen Familienaufstellung wenigstens eine Art von Kain-und-Abel-Motiv ausdachte, das sich auf das von ihm so konstruierte Zwillingsbruderpaar Wotan & Alberich bezog und mit jenem von Anbeginn in seinem Bayreuth-RING präsenten Unglücksstiefkind Hagen eine glaubwürdige Plausibilität bekam - - ergo, ich konstatiere:

4:1 für Schwarz, deutlich zuungunsten Tcherniakovs.

Eingebetteter Medieninhalt

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Und was gab es außerdem zu sehen und zu hören?

Die Nornen [Namen s.u.] quälten sich mit Gehhilfen und geriatrischen Defekten in die seit Walküre mittlerweile drittbezog'ne Studiowohnung, wo Brünnhilde augenblicklich aufgestanden war, um Siegfrieds Reisezeug einschließlich ihres Grane-Plüschpferdchens zu packen; ja, das hatte eine starke Komik.

Mandy Fredrich( (utrune) musste vor, während und nach ihren Gesangseinlagen übertrieben viel herumkichern.

Violeta Urmana war als Waltraute engagiert: das ging gerade so. (Wer einmal Waltraud Meier in dieser Rolle erlebte, wollte lange, lange, lange keine andere mehr sehen oder hören.)

Johannes Martin Kränzle (Alberich) besuchte den bösartigen Leibessohn im Schulungsraum des E.S.C.H.E.-Instituts und drängte drauf, dass der seine Mission vollenden sollte; dabei strickte er sich nebenbei einen Schal, was sichtlich nottat, denn er war fast splitternackt; kein Goldgeld mehr, also auch nichts zum Anziehen.

Siegfried hatte einen Termin im so genannten Stresslabor, dort wurde er von den neurologisch geschulten Rheintöchtern [Namen s.u.] betreut.

Seine Ermordung durch Hagen erfolgte beim Basketball, alle trugen grüne Trikots, auch Lauri Vasar (Gunther), der an sich - wie für die Rolle verlangt - relativ unauffällig blieb, v.a. stimmlich.

Brünnhildes definitiver Abgang geschah auf gänzlich leer geräumter Bühne, und Erda kam dann noch vorbei, um ihr das batteriegesteuerte Waldvöglein zu reichen. Aha, aha.

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Summa summarum:

Hauptstar war, ist, bleibt - und übrigens bei jedem RING, egal, wer ihn dann dirigiert - die Staatskapelle Berlin, und über sie ist alles schon gesagt worden.

Und Thielemann, der 19jährig seine Dirigentenkarriere als Assistent von Karajan begann, hat in der Tat eine fast ähnlich großschwülstige RING-Auffassung wie sein damaliger österreichischer Maestro; ich hatte mir jetzt nachträglich die Karajan'sche Polydor-Aufnahme aus den Endsechzigern ausschnittweise reingezogen, um hiernach gewisse "Übereinstimmungsmerkmale" zu erhören - freilich "klingt" der Thielemann, vergleicht man beide Dirigate, wiederum ganz anders, irgendwie auch besser und (viel mehr noch:) sehr detailversessen.

Ja und Tcherniakovs auffällig bestechende Personenregie führte - bar seines gescheiterten Gesamtkonzepts - zu schauspielernden Glanzleistungen ersten Ranges; daher war es auch eine gelungene Idee, Michael Volle und Anna Kissjudit (als stumm auftretende Gö.-Gäste) an Ort und Stelle noch einmal zu sehen.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 10.10.2022.]

GÖTTERDÄMMERUNG (Staatsoper Unter den Linden, 09.10.2022)
Musikalische Leitung: Christian Thielemann
Inszenierung und Bühnenbild: Dmitri Tcherniakov
Kostüme: Elena Zaytseva
Licht: Gleb Filshtinsky
Video: Alexey Poluboyarinov
Choreinstudierung: Martin Wright
Dramaturgie: Tatiana Werestchagina und Christoph Lang
Besetzung:
Siegfried ... Andreas Schager
Gunther ... Lauri Vasar
Alberich ... Johannes Martin Kränzle
Hagen ... Mika Kares
Brünnhilde ... Anja Kampe
Gutrune ... Mandy Fredrich
Waltraute ... Violeta Urmana
Drei Nornen ... Noa Beinart , Kristina Stanek und Anna Samuil
Woglinde ... Evelin Novak
Wellgunde ... Natalia Skrycka
Flosshilde ... Anna Lapkovskaja
Erda (stumm) ... Anna Kissjudit
Wotan (stumm) ... Michael Volle
Staatsopernchor
Staatskapelle Berlin
Premiere war am 9. Oktober 2022.
Weitere Termine: 23.10./ 06.11.2022/ 10.04.2023


Neuer RING an der Staatsoper Unter den Linden (1) | Das Rheingold

Neuer RING an der Staatsoper Unter den Linden (2) | Die Walküre

Neuer RING an der Staatsoper Unter den Linden (3) | Siegfried

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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