INTOLLERANZA 1960 an der Komischen Oper Berlin

Premierenkritik Bühnenbildner Márton Ágh installierte eine gigantische Eiswüste und rahmte mit ihr Nono's Oper ein

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Die KOMISCHE OPER BERLIN feiert in diesem Jahr ihr 75-jähriges Jubiläum, aus diesem Anlass wird es einen Tag vor Heiligabend eine Gala geben; bis dahin sind außerdem noch Wagners Fliegender Holländer und Offenbachs Oyayaye [noch nie zuvor gehört!] erlebbar, ja und bis Saison-Ende stehen dann unter anderem derKäfig voller Narren, eine Mini- oder Midi-Fledermaus, der Anfang eines neuen Mozart-Da-Ponte-Zyklus, eine Hamlet-Uraufführung und ein Händelfestival zur Diskussion.

Nachdem ihr überaus erfolgreich gewesener Künstlerintendant Barrie Kosky seinen Posten im vergangenen Sommer (10 Jahre hat er ausgehalten, immerhin!) beendete, existiert fortan eine Doppelspitze mit Susanne Moser & Philip Bröking, die - außer dass sie ihr Haus auch nach dem großen Jubiläum hoffentlich nicht minder (und zwar "nicht nur" wirtschaftlich) erfolgreich zu führen imstande sein wird - eine längere und umfangreichere Sanierungsphase, beginnend ab nächster Spielzeit, durchzustehen hätte. Wann das neusanierte Haus dann wieder öffnen würde? Wegen all der Staatsoper-Erfahrungen von 2010 bis 2017 wagt wohl keiner diesbezüglich eine auch nur annähernd seriöse Angabe zu machen. Mitten in die Interimsphase hinein fällt übrigens dann auch die Inauguration James Gaffigans als neuer GMD; mal sehen, wie und wo er das Ensemble musikalisch, und mit welchen neuen Schwerpunkttupfern, leiten und geleiten wird.

Soweit die Zukunftsmusik.

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Und gestern Abend nun - die erste Premiere dieser frischen Spielzeit:

Intolleranza 1960 von Luigi Nono (1924-1990).

Die Berliner Erstaufführng war 2001, als Udo Zimmermann anlässlich seiner begonnenen Intendanz an der Deutschen Oper Berlin Peter Konwitschny (Regie) und Peter Rundel (Dirigent) damit beauftragte - ich war da live zugegen, kann mich aber leider überhaupt nicht mehr auch nur an ein Detail der Produktion erinnern, weder szenisch noch musikalisch. Lag/ liegt das vielleicht am Stück?

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"Ein Gastarbeiter flieht aus dem Moloch einer Bergarbeitersiedlung. Seine verständnislose Frau lässt er zurück und gerät auf der Suche nach dem Heimweg in politische Unruhen, wird schuldlos verhört, gefoltert und in ein Konzentrationslager gesperrt. Er erlebt Brutalität und Willkür, auch Solidarität. Kann fliehen, will kämpfen, gegen die Ungerechtigkeit, findet Halt in der Liebe einer Gefährtin. Schließlich strandet er in einem Dorf, das von den Fluten eines Hochwassers fortgerissen wird. Die letzten Worte des Chors stammen aus dem Gedicht von Bertolt Brecht An die Nachgeborenen: '… ihr, wenn es soweit sein wird, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist, gedenkt unsrer mit Nachsicht.' Musikalisch bedient Nono sich einer frei gehandhabten Serialität, die in ihrer hohen Komplexität gewaltige Farbigkeit und emotionale Durchlässigkeit behält. Gerahmt durch zwei große kontemplative Chöre zeigt der Komponist mit aller Vehemenz die Missstände einer dysfunktionalen Gesellschaft auf. Die finale Flut scheint heute mehr noch als zur Entstehungszeit eine erschreckend plausible Konsequenz menschlicher Unzulänglichkeit." (Quelle: komische-oper-berlin.de)

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Die Handlung [s.o.] wird - absichtlich oder weniger absichtlich - durch den Inszenierer Marco Štorman bis zur vollkommenen Unkenntlichkeit hin verwässert oder (besser noch:) vereisigt. Sie "ereignet" sich in einer Schnee- und Eislandschaft, die der Ausstatterr Márton Ágh als bühnenbauliches Gesamtkunstwerk, und zwar von der Decke bis zum Boden sowie von den Rängen bis zur Bühne über das Parkett und den Orchestergraben, installierte; weiße Watte, weißer Tüll und weißes Spanholz dienten ihm hierzu als Materialien, selbst die Sitzreihen fürs Publikum, das im Parkettbereich rund um die Riesen-Eiswüste auf weißen Plastikstühlen saß, war diesem Farbgrundton entsprechend angepasst, auch konnte, wer da saß und wer das letztlich wollte, sich 'nen umhanggroßen Weißlatz überziehen und auf diese Art zum Teil von Ághs Installation werden. Und die Kostümbildnerin Sara Schwartz bekleidete das Gros der mitwirkenden Hundertschaft - vor allem die mit oder ohne ihre Imkerhüte hochsensationell singenden als wie spielenden Chorsolisten der Komischen Oper Berlin (Einstudierung: David Cavelius) - ebenso, d.h. zumeist in Weiß mit ein paar Ausnahmen, wo zwei, drei Hauptdarstellerinnen (Ilse Ritter, Josefine Mindus) artifizielles Schwarz oder die beiden Haupt-Männer des Stücks (Sean Panikkar, Tom Erik Lie) dezentes Lupenproletartierbraun zur Schau trugen.

Das Musikalische verantwortete der Dortmunder Generalmusikdirektor Gabriel Feltz, dem man hierzu ein Dirigier-Gerüst gebaut hatte, von dem aus er - in Höhe des 2. Ranges - das erheblich aufgestockte Orchester der Komischen Oper Berlin rechter- wie linkerseits unter Kontrolle hielt. Im Programmheft lässt er wissen, dass die Nono-Oper "einer der großen Klassiker nach 1945 [ist] und einfach regelmäßig gespielt werden [muss]". Das mag so stimmen, wenn auch nur rein musikalisch, denn der Schönberg-Schwiegersohn legte sich seiner Zeit kräftig ins Zeug, um "seinen" Zwölfton nicht weniger ordentlich als den des Schwiegervaters zu komponieren.

Was uns Nonos Intolleranza heute - jedenfalls, was meine persönliche Rezeption betrifft - noch sagen könnte, wäre wohl nicht allzu viel. Das Appellarische in ihrem Grundton, dieser vorwurfsvolle Dauer-Zuruf an uns unbeteiligte Beteiligte und jene klassenkämpferischen Muss-Parolen (Tod dem Faschismus! usf.): alles unterschreibbar, ja, natürlich - aber alles nicht unter die Haut gehend, fast unemotional. Und mit Appellen und Parolen war und ist dem menschlichen Bewusstsein nie so richtig beizukommen gewesen. Katharsis? Fehlanzeige. Am Sonntagabend werden allen bisherigen Umfragen zufolge die profaschistischen "Brüder Italiens" die Parlamentswahl gewinnen, um ein Beispiel dafür zu nennen, wie es mit dem menschlichen Bewusstsein derzeit so bestellt ist...

Als Erinnerung daran, was Neue Musik vor 60 Jahren so bewirkt haben mag, taugte der szenisch als wie musikalisch hergewuchtete Hype auf alle Fälle.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 24.09.2022.]

INTOLLERANZA 1960 (Komische Oper Berlin, 23.09.2022)
Musikalische Leitung: Gabriel Feltz
Inzenierung: Marco Štorman
Bühnenbild: Márton Ágh
Kostüme: Sara Schwartz
Dramaturgie: Johanna Wall
Chöre: David Cavelius
Licht: Olaf Freese
Besetzung:
Emigrante ... Sean Panikkar
Seine Gefährtin ... Gloria Rehm
Eine Frau ... Deniz Uzun
Ein Algerier ... Tom Erik Lie
Ein Gefolterter ... Tijl Faveyts
Sopran-Solo ... Josefine Mindus
Engel der Geschichte ... Ilse Ritter
Chorsolisten der Komischen Oper Berlin
Vocalconsort Berlin
Orchester der Komischen Oper Berlin
Premiere war am 23. September 2022.
Weitere Termine: 25., 27., 29.09. / 01., 03.10.2022

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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