Wer Mitte, Ende der 1970er Jahre ein Teenager war und in Italien lebte, der verbindet mit dem Namen Feltrinelli äußerst angenehme Erinnerungen. Wollte man damals noch kurz außer Haus – Freunde, Freund, Freundin treffen –, dann funktionierte der Vorwand, man müsse zum Buchladen „Libreria Feltrinelli“, bestens. Die Eltern hatten meistens nichts dagegen einzuwenden. Dabei war es oft gar nicht, oder nicht ausschließlich, ein Vorwand, denn man verabredete sich gerne im nächstliegenden Buchladen Feltrinelli, um zwischen den Bücherinseln zu schlendern, über das zuletzt gelesene Buch zu plaudern und zu beschließen, ob man am nächsten Tag statt in die Schule zur Demo gehen sollte.
So hatte sich das der Gründer Giangiacomo Feltrinelli vorgestellt, als er 1957 den allerersten Buchladen in Pisa eröffnete: „Damals, wie heute, sollte ‚la Feltrinelli‘ nicht nur ein Geschäft sein, in dem man das gewünschte Buch kaufte und dann gleich wieder ging“, erzählt sein Sohn Carlo Feltrinelli bei einem Treffen im Mailänder Verlagshaussitz. Die Libreria sollte die Menschen zusammenführen, zu einem gesellschaftlichen wie kulturellen Treffpunkt werden und eine Variante der italienischen „Piazza“ sein. So ist es bis heute, auch wenn am ursprünglichen Konzept weitergesponnen wurde. Die vorläufig letzte „Variation“ ist RED: Das Kürzel steht für „Read Eat Dream“, denn neben Büchern, Presse und Musik gibt es nun auch gute Speisen.
Mailand, ein Dienstag im Winter. Schon am frühen Nachmittag hat sich in der Via Pasubio eine lange Schlange gebildet, nordwestlich des Mailänder Zentrums – dort, wo einst die Stadtmauern verliefen und viel später über Jahrzehnte die vom Krieg angerichteten Verwüstungen zu sehen waren. Die Menschen warten geduldig vor einem nagelneuen vierstöckigen, ganz mit Glas bedeckten Gebäude. Mit seinem gigantischen Giebeldach erinnert es an eine Kathedrale, eine laizistische natürlich. An die 6.000 Menschen sollten das neue Zuhause der Stiftung „Fondazione Feltrinelli“ an diesem Eröffnungstag besuchen.
Der Entwurf dieses Gebäudes stammt von dem Schweizer Architektenduo Jacques Herzog & Pierre de Meuron und reiht sich in seiner ästhetischen Unwiderruflichkeit perfekt in das in den letzten Jahren stark mutierte Mailänder Stadtbild ein. Der neue Sitz der Fondazione befindet sich jetzt in unmittelbarer Nähe des neuen Wolkenkratzerviertels Porta Nuova, seit ein paar Jahren Mailands neues Wahrzeichen.
Giangiacomo Feltrinelli gehörte zu Italiens schillerndsten Persönlichkeiten der Nachkriegszeit. Erbe eines millionenschweren Vermögens, schloss er sich, 18 Jahre alt, im italienischen Befreiungskampf den Partisanen an und trat später der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) bei.
Für die Arbeiter
Das Parteibuch allein genügte ihm nicht. Sein Interesse und sein Engagement galten vornehmlich der Arbeiterklasse und den Arbeiterbewegungen, in Italien wie europaweit. Er wollte ihnen einen angemessenen Platz in der Geschichtsschreibung sichern, und außerdem, dass sie an der gesellschaftlichen Entwicklung teilhaben und teilnehmen konnten.
Dafür investierte er nicht nur seine intellektuellen Energien, sondern auch einen beträchtlichen Teil seines Vermögens. Als Erstes gründete er 1949 die Fondazione Feltrinelli, damals noch eine Bibliothek. 1955 kam der Verlag hinzu, zwei Jahre später die erste Libreria.
Der Bestand der Fondazione beläuft sich heute auf mehr als 270.000 Bücher, 16.000 Zeitschriften plus eine Sammlung von rund 14.000 politischen Plakaten. All das deckt nun zwölf Kilometer auf zwei Ebenen im Untergeschoss des neuen Sitzes ab. Zu den hier aufbewahrten Schätzen gehören unter anderem sämtliche Erstausgaben von Marx und Engels sowie die zahlreicher Vertreter der deutschen Sozialdemokratie – darunter Ferdinand Lassalle, Karl Kautsky, Rosa Luxemburg, Eduard Bernstein, Franz Mehring. Unter anderem werden hier auch die Manuskripte Gracchus Babeufs sowie Pierre-Joseph Proudhons aufbewahrt.
Bezeichnend für die Fondazione ist von aller Anfang an die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene, sie ist Mitglied des Netzwerks International Association of Labour History Institutions und arbeitet etwa mit dem Bonner Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit sowie der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Bibliothèque de documentation internationale contemporaine in Paris und der Fundação Mário Soares in Lissabon zusammen. Im Lesesaal direkt unter dem Giebeldach kann jeder und jede das viele Material konsultieren, darunter auch die Dokumente über die Industrierevolution in England. Und eben dort hängt das Rote Tuch der Pariser Kommune, eine „Reliquie“ aus dem Jahr 1871.
Zwar dient das Gebäude der Stiftung als neues Zuhause, doch das eigentliche Ziel ist vielseitiger: Im Erdgeschoss sind ein Buchladen mit vor allem wissenschaftlichem Angebot und ein „Babitonga-Café“ untergebracht; im zweiten Stock befindet sich die sala polifunzionale, die zum pulsierenden Herz des Gebäudes werden soll – ein Ort, wo abwechselnd Konzerte, Vorträge und Theatervorstellungen stattfinden. „Wissenschaft, Bildung, gesellschaftliches Zusammenleben und kreatives Schaffen werden hier aufeinanderstoßen“, erklärt Carlo Feltrinelli. Die durchsichtige Kathedrale soll ein Ort der Aufklärung und der demokratischen Kultur werden.
Ein unabhängiger Konzern
Seit mehr als 60Jahren gehört die Gruppo Feltrinelli zu den renommiertesten – und immer noch unabhängigen – Verlagsunternehmen Italiens. 1949 gründete Giangiacomo Feltrinelli die Biblioteca, heute Fondazione (Stiftung) Feltrinelli, zur Erforschung der Arbeiterbewegung. 1955 folgte das Verlagshaus, zwei Jahre später öffnete in Pisa der erste Buchladen, die Libreria Feltrinelli. Heute gibt es in ganz Italien 116 davon.
Der Gründer war Erbe eines Millionenvermögens und ein radikaler Linker, der mit den Büchern die Welt verändern wollte. Dabei verstand es Giangiacomo Feltrinelli, Ideologie mit Unternehmersinn zu verknüpfen. Sein Ziel war es, eine Struktur zu schaffen, die alle Abschnitte des Verlagswesens abdeckte: von der Veröffentlichung über den Vertrieb bis zum Verkauf. In diesem Sinn wurde Feltrinelli auch nach dem tragischen Tod Giangiacomos 1972 weitergeführt: zuerst von seiner Frau Inge Schönthal, einer aus Göttingen stammenden ehemaligen Fotoreporterin, und dann von seinen Sohn Carlo. 1957, zwei Jahre nach Verlagsgründung, erschien Boris Pasternaks Doktor Schiwago, ein Jahr später folgte Giuseppe Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo: zwei Weltbestseller.
Jedes Jahr finden an die 4.000 Veranstaltungen in Italiens Feltrinelli-Buchläden statt. Unter Carlo Feltrinelli stellt die Holding Effe 2005 – Gruppo Feltrinelli eine in ihrer Vielseitigkeit einzigartige Kulturschmiede dar. Seit dem Jahr 2012 ist sie Partner der von dem Schriftsteller Alessandro Baricco gegründeten Turiner Scuola Holden, einer Schule für kreatives Schreiben; seit 2013 betreibt die Gruppe den privaten TV-Sender La EFFE.
Als sein Vater, nach einigen Jahren im politischen Untergrund, 1972 unter nie ganz geklärten Umständen durch eine Sprengstoffexplosion in der Nähe Mailands ums Leben kam, war Carlo Feltrinelli zehn Jahre alt. Nichtsdestotrotz schrieb er, über diesen zu kurz erlebten Vater, die dann 1999 erschienene, ergreifende Biografie Senior Service. In Deutschland ist sie mit dem Untertitel Das Leben meines Vaters Giangiacomo Feltrinelli erschienen. Damals erklärte Carlo Feltrinelli, er habe dieses Buch geschrieben, weil sein Vater zu den großen Verdrängungen der Linken gehöre, kulturell sowie politisch. Weil sich niemand gefunden hatte, der bereit gewesen wäre, diese Biografie zu schreiben.
Eigentlich legt auch der neue Sitz die Vermutung nahe, dass es sich um einen Tribut an seinen Vater handle, doch der Sohn widerspricht: „Zweifelsohne stammen einige Merkmale, die für Feltrinelli bezeichnend sind, noch aus der Zeit meines Vaters: zum Beispiel eine nie gestillte Neugierde und eine gewisse Rastlosigkeit. Seit seinem Tod sind aber über 40 Jahre verstrichen, und was Fondazione, Verlag und Librerie heute sind, ist in erster Linie das Verdienst all jener, die nach ihm weitergemacht haben. Allen voran meine Mutter.“
Duras, Kertész, Saviano
Die aus Göttingen stammende Fotojournalistin Inge Schönthal hatte Giangiacomo, 1958 bei einer Rowohlt-Party in Hamburg kennengelernt. Die beiden sahen sich dann noch ein paarmal, bevor sie endgültig nach Mailand zog. Zwei Jahre später feierte man Hochzeit und 1962 kam Sohn Carlo auf die Welt. Nach dem Tod ihres Mannes war es Inge Feltrinelli, die das Ruder entschlossen an sich zog. Ihr ausgeprägtes Gespür für das wahre Talent, eine gewisse Hartnäckigkeit und eine ansteckende Leidenschaft haben Inge Feltrinelli zur Grande Dame des internationalen Verlagswesens gemacht. War es Giangiacomo Feltrinelli 1957 gelungen, mit Boris Pasternaks Doctor Schiwago und ein Jahr später mit Giuseppe Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo zwei Volltreffer, und zwar weltweit, zu landen, ist der Großteil der Autoren, aus denen der Verlagskatalog besteht, ihr Verdienst.
Zu diesen gehören, um nur einige der wichtigsten unter ihnen zu nennen: Marguerite Duras, Isabel Allende, Nadine Gordimer, Péter Esterházy, Christoph Ransmayr, Amos Oz, António Lobo Antunes, Richard Ford, Daniel Pennac, Imre Kertész, Kurt Vonnegut, J. G. Ballard, Doris Lessing, Jonathan Coe, Antonio Tabucchi, Alessandro Baricco, Roberto Saviano; und unter den Wissenschaftlern Jürgen Habermas, Charles Taylor, Mike Davis, John Rawls, Isaiah Berlin, Ronald Dworkin, Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Howard Gardner. Für so manchen unter ihnen wurde Feltrinelli nicht nur zu ihrem italienischen Verlag, sondern dank Inge Feltrinelli zugleich zu ihrem Mailänder Zuhause. „Das Verlagswesen hat sich in den Jahren stark verändert“, sagt Carlo Feltrinelli. „Die Rolle der Agenten ist zunehmend wichtiger geworden. Nichtsdestotrotz bleibt die Beziehung zu unseren Autoren weiter eng. Feltrinelli ist so etwas wie ein Club.“
Auf die Frage, ob es Leidenschaft oder Pflichtgefühl gewesen ist, was ihn einst dazu bewog, in die Fußstapfen seiner Eltern zu treten, antwortet Carlo Feltrinelli: „Das ist schwer zu sagen, ich war noch sehr jung, und der Verlag befand sich in einer dramatischen wirtschaftlichen Lage. Es galt also schnell zu entscheiden, ob wir weiter- oder Schluss machen sollten.“ Mittlerweile ist er Vorsitzender der Holding Effe 2005 – Gruppo Feltrinelli, die die Fondazione, die Librerie und den Verlag zusammenfasst.
Als sein Vater sich anschickte, das Verlagsunternehmen zu gründen, trieb ihn die Frage, ob es irgendwann möglich sein werde, allen Menschen ein akzeptables Dasein zu garantieren. Das war in den 1950ern, das italienische Wirtschaftswunder stand vor der Tür. „Heute konfrontieren wir uns ‚mit der Diktatur des Hier und Jetzt‘, wie mein Freund der Philosoph Salvatore Veca sagt“, meint Carlo Feltrinelli. „Und was die Zukunft betrifft, bin ich alles andere als optimistisch.“ Italien sei zwar noch immer reich an Kreativität, Unternehmergeist und humanem Kapital. Mangelhaft sei jedoch die Elite; die Verantwortlichen in den Führungsetagen seien den Herausforderungen unserer Zeit eindeutig nicht gewachsen. „Auch ich, ich nehme mich da nicht raus.“
Kultur galt in Italien schon immer als elitär. War sie einst der Oberschicht vorbehalten, hieß es ab den 60er Jahren, die Linke, gefolgt vom Großteil der Intellektuellen, habe sie zu ausschließlich ihrem Territorium ernannt. Und Carlo Feltrinelli, ist er Teil dieses linken Lagers? „Was mein politisches Credo betrifft, so sehe ich es vielmehr in meiner Arbeit wiedergespiegelt. Außerdem habe ich erst vor kurzem die Promotion zum Intellektuellen erhalten“, sagt er und schmunzelt. „Erst vergangenen Oktober, mit dem Literaturnobelpreis an Bob Dylan.“ Jahrelang habe man ihn wegen seiner Dylan-Manie auf den Arm genommen. Fast kein Konzert, wo immer er aufgetreten ist, habe er verpasst, und die Rechte für die Übersetzung Dylans monumentaler Autobiografie Chronicles erworben.
„Aber zurück zur Kultur, von ihrem mutmaßlich elitären Charakter. Ein italienischer Minister hat einst gesagt, Kultur könne man nicht essen. Wir sehen das anders. Kultur muss alle erreichen, allen dienen. Die ersten Bücher, die Feltrinelli veröffentlichte, waren Taschenbücher, die 100 Lire kosteten, also wirklich wenig. Es waren Romane, Krimis, aber auch Sachbücher, wie Voltaires Über die Toleranz mit einer extra für unseren Verlag verfassten Einleitung. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob Kultur noch immer als elitär gilt. Sicher ist aber, dass es zu wenig davon gibt.“
Zur Eröffnung des neuen Zuhauses der Stiftung war als Redner der 28-jährige niederländische Philosoph Rutger Bregman eingeladen. Utopien für Realisten, der Titel seines Buchs, das in Italien bei Feltrinelli erscheint, klingt wie ein gutes Omen.
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