Staatschef Juvenal Habyarimana und der ihn begleitende burundische Amtskollege Cyprien Ntaryamira kamen am 6. April 1994 von einem Afrika-Gipfel in Tansania. Es ging dort um das ein halbes Jahr zuvor unterzeichnete Friedensabkommen von Arusha. Dieses Agreement sollte einen Guerillakrieg in Ruanda beenden, den sich die Patriotische Front (RPF), eine Exilanten-Armee verfolgter Tutsi, seit Beginn der neunziger Jahre mit der Nationalarmee Ruandas (FAR) lieferte. Zudem sollten Emigranten aus der Tutsi-Minorität zurückkehren dürfen und an der Regierung in Kigali beteiligt werden, die sich seinerzeit allein aus Politikern der Hutu-Mehrheit rekrutierte.
Bereits Stunden nach dem Anschlag auf die Präsidentenmaschine tauchten überall in Ruanda Straßensperren auf. Wer passieren wollte und ein T für Tutsi in seinem Pass hatte, schwebte in tödlicher Gefahr. Auch Premierministerin Agathe Uwilingiyimana, eine Hutu, wenngleich stets um Ausgleich und Versöhnung bemüht, wurde am 7. April zusammen mit zehn für ihren Schutz verantwortlichen belgischen Blauhelmsoldaten umgebracht. Da durchkämmen bereits Todesschwadronen – sogenannte Interahamwe-Milizen – die Viertel der Tutsi. Mit sorgsam vorbereiteten Listen ziehen sie von Haus zu Haus.
Am 8. April wird das Telefonnetz von Kigali gekappt. Am 10. April rücken Konvois von Müllwagen aus, um Leichen einzusammeln oder Leichenberge abzutragen. Belgien kündigt an, seine 440 Soldaten der UN-Ruanda-Mission UNAMIR abzuziehen. Schon am 11. April verlassen die letzten den Stadtteil Kicukiro – über 2.000 Menschen bleiben zurück und sind wehrlos den Macheten schwingenden Interahamwe ausgeliefert.
Gut vorbereitet
Was schon nach wenigen Tagen anmutet wie das Eintauchen in die Apokalypse, ist erst der Beginn eines Abschlachtens, an dem sich Tausende Hutu beteiligen. Die Regierung braucht für ihren diabolischen Plan keine Massenvernichtungswaffen, sie muss keine perfiden Tötungsmaschinen einsetzen. Es reicht, eine damals zum größten Teil analphabetische Bevölkerung aufzuhetzen. Nachbarn massakrieren Nachbarn, Freunde töten Freunde, Männer ihre Ehefrauen, manchmal auch Kinder. Und dies aus einem einzigen Grund: Weil sie Tutsi sind. Oder weil sie Hutu sind, die sich dem Tötungswahn verweigern.
Auch wenn es diesen Augenblick des Beginnens nach dem Flugzeug-Crash gibt, kommt das Grauen nicht über Nacht, sondern erweist sich als gut vorbereitet. Die Ursachen reichen Jahrzehnte, womöglich Jahrhunderte zurück in eine Zeit, als Ruanda erst deutsches Protektorat ist und nach 1923 als Mandatsgebiet des Völkerbundes belgischer Verwaltung untersteht. Das Land beherbergt bis dahin eine feudale Gesellschaft mit einer Aristokratie, die sich aus jenen gebildet hat, die das sicherste Zahlungsmittel Zentralafrikas besitzen: Vieh. Als die Belgier Mitte der dreißiger Jahre eine Volkszählung abhalten, klassifizieren sie die Viehbesitzer als Tutsi – die Ackerbauern, die sozial niedriger stehen, als Hutu. Und sie bestimmen, diese Zugehörigkeit müsse als T oder H auch im Ausweis oder Pass stehen. Damit wird ein Klassensystem für eine Gemeinschaft dekretiert, die bis dahin von Durchlässigkeit und Toleranz geprägt schien. Die Belgier säen, woraus gut 60 Jahre später ein Sturm werden soll.
Zu ersten Pogromen gegen die Tutsi kommt es bereits 1959. Nach dem plötzlichen Tod des nach Unabhängigkeit strebenden Königs erhebt sich die Bevölkerungsmehrheit der Hutu gegen die Oberschicht der nunmehr auch den Belgiern unbequemen Tutsi. Eine erste Flüchtlingswelle ergießt sich nach Burundi. Das Morden hält noch fünf Jahre an. Anfang der siebziger Jahre wiederholen sich die Übergriffe und erneut rennen Tausende um ihr Leben und schaffen es nur manchmal bis ins rettende Exil. Im benachbarten Uganda formieren sich die Flüchtlinge nach 1980 – mit dem militärischen Beistand der USA im Rücken – zur Patriotischen Front (RPF). In den neunziger Jahren geht diese gut trainierte und hoch motivierte Rebellenarmee immer öfter über die Grenze nach Ruanda und führt aus der sicheren Deckung der Virunga-Berge einen Guerillakrieg gegen die Nationalarmee, die wiederum auf französische Unterstützung zählen kann. In jener Zeit bildet sich um die Präsidentengattin Agathe Habyarimana ein extremistischer Zirkel, der sich auf das „Hutu-Manifest“ von 1957 und dessen Appell beruft, Tutsi zu töten, wo immer man sie trifft.
1992 schließlich wird eine Waffenruhe zwischen den Hutu-Autoritäten in Kigali und der RPF ausgehandelt, auch wenn Mordanschläge gegen Tutsi in Ruanda nicht nachlassen, so sehr sich auch die Vereinten Nationen als Friedensstifter ins Zeug legen. Im Januar 1993 importiert die ruandische Regierung aus China Macheten und Sensen, die offiziell als landwirtschaftliches Gerät klassifiziert werden. Bald darauf, im Juli 1993, geht der Kanal Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) auf Sendung, im Volksmund „Hate-Radio“ genannt. Täglich werden die Hörer aufgehetzt, es gelte die inyenzi (Kakerlaken) zu töten, womit die Tutsi gemeint sind. Während des 100 Tage dauernden Mordrauschs zwischen April und Juli 1994 wird über RTLM die Parole verbreitet, die Gräben seien erst halb gefüllt, man solle noch mehr Tutsi töten. Als einer der übelsten Einpeitscher tut sich der aus Belgien stammende Moderator Georges Ruggiu hervor.
Am 20. April 1994 ist der Ausstieg der belgischen Blauhelme vollzogen. Zwei Tage später beschließt der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 912, auch den größten Teil der UNAMIR-Soldaten aus anderen Ländern abzuziehen – die Lage sei zu explosiv. Eine Restpräsenz von nur 270 Mann wird aufrechterhalten. Mit anderen Worten, die Weltorganisation zieht sich zurück, obwohl ihr nicht verborgen bleiben kann, wie ein Mitgliedsstaat zu einem Treibhaus des Todes wird. Am 24. April meldet eine Oxfam-Mitarbeiterin ihrer Zentrale in London unmissverständlich: Hier geschieht ein Völkermord. Am 29. April einigt sich der UN-Sicherheitsrat aber lediglich auf den Begriff „genozidäre Vorgänge“. Das Eingeständnis, dass es sich um einen Genozid handelt, hätte sofortiges Handeln der Weltgemeinschaft auslösen müssen. Ein Schritt, wie ihn besonders Washington und London verweigern.
Korridor für die Täter
Wenigstens wird am 17. Mai mit der Resolution 918 beschlossen, nun doch wieder 5.500 Soldaten nach Ruanda zu schicken. Doch es bleibt bei einer Absichtserklärung. Erst einen Monat später kündigen die Franzosen in der UNO an, Soldaten als interimistisches Friedenskorps nach Ruanda dislozieren zu wollen. Opération Turquoise nennt sich das Unternehmen und führt zur Errichtung von Sicherheitszonen an der ruandisch-kongolesischen Grenze. Am 3. Juli nimmt die Patriotische Front Butare ein, die zweitgrößte Stadt des Landes – einen Tag später gelingt es ihr, Kigali zu erobern. Offiziell ist der Völkermord an diesem Tag beendet. Doch die Serie der Gewalt reißt nicht vollends ab. Hunderttausende Hutu – darunter hochrangige Politiker und Militärs – setzen sich über einen von französischen Legionären gesicherten Fluchtkorridor in den Kongo ab.
Am 19. Juli erklärt die neue Regierung des RPF-Chefs Paul Kagame die alten Pässe mit den ethnischen Zugehörigkeitsstempeln für ungültig. Schon im November wird durch die UN-Resolution 955 ein Internationaler Strafgerichtshof für die Völkermörder von Ruanda im tansanischen Arusha ins Leben gerufen. Dort wird bis 2012 etlichen Drahtziehern der Gewaltorgie der Prozess gemacht. Bis die schiere Masse derjenigen, die missbraucht und aufgehetzt ihre Nächsten töteten, Sühne leisten muss, dauert es noch Jahre. Erst die Rückkehr zu den traditionellen Dorfgerichten, den sogenannten Gacacas, ermöglicht die Verurteilung der Mitläufer.
Hundert Tage hat das Gemetzel der Milizionäre mit den Macheten gedauert. Am Ende sind 800.000 Menschen tot, so lauten die offiziellen Schätzungen.
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