Die Welt schweigt uns an

Nordirak Viele Jesiden leben weiter in Flüchtlingscamps und haben wenig Hoffnung auf Heimkehr. Vor allem die Jungen sind verzweifelt
Ausgabe 03/2019

Ende 2017, an jenem Tag, an dem die 16-jährige Jesidin Maskin durch eigene Hand starb, zog erster Herbstregen über das Zeltlager. Die Wege wurden schlammig, die Planen flatterten im Wind. Vielleicht, sagt Maskins Bruder Shuoer, sei es der nahende Winter mit seiner Dauer, Kälte und Trostlosigkeit gewesen, der seiner Schwester endgültig die Lust auf das Leben genommen habe. Sie sei schon lange vor ihrem Selbstmord verstummt, doch habe sich niemand viel dabei gedacht. Still und traurig seien schließlich die meisten im Lager.

Als man ein Jahr später im Flüchtlingsrefugium Esyan des ersten Todestages von Maskin gedenkt, scheint die Sonne, und der Wind verweht den trockenen Sand zu Kreiseln. Die Gäste haben sich in zwei großen Zelten versammelt, Männer und Jungen in einem, Frauen und Mädchen in einem anderen. Teller voller Speisen und Kaffee werden gereicht. Im Frauenzelt fließen Tränen, die Mutter des Mädchens findet Trost in Umarmungen. Die Männer rauchen und weinen nicht.

Schluchzende Diplomaten

An jenem Tag Mitte Dezember 2018 erhält die 23-jährige jesidische Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad, die auch einmal im Flüchtlingslager lebte, den Friedensnobelpreis. Sie hatte den Mut, der ganzen Welt von ihrer Verschleppung durch den Islamischen Staat (IS) zu erzählen, vom gewaltsamen Tod ihrer Brüder und ihrer Mutter, von einer Gefangenschaft, in der man nicht nur sie vergewaltigte, sondern auch ihre gerade einmal zwölf Jahre alten Cousinen. Von ihrem und dem Schicksal Tausender anderer jesidischer Frauen und Mädchen hat Murad vor den Vereinten Nationen und Menschenrechtskomitees berichtet, in Dutzenden von Interviews und schließlich sogar in einem Film, der ihren Namen trägt. Stets hat sie betont, sie tue das nicht für sich, sondern um die Welt zum Handeln zu bewegen: Die internationale Gemeinschaft solle den Frauen helfen, die sich noch in der Gewalt des IS befinden, auch den Hunderttausenden Jesiden, die seit nunmehr vier Jahren in Lagern leben. Als UN-Sonderbotschafterin hat Murad versucht, Länder wie Kanada zu bewegen, Jesiden aufzunehmen. Und sie hat an die Staatengemeinschaft appelliert, für die Rückkehr ihres Volkes in seine Heimat, die Region Sindschar im Nordirak, zu sorgen. Ihr Zeugnis hat hartgesottene UN-Diplomaten zum Schluchzen gebracht, doch die Jesiden nicht von der Vertreibung erlöst.

Im Lager Esyan, einem von 22 derartigen Camps in der autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak, leben derzeit etwa 10.000 Menschen. Wenig ist dort zu spüren von der Aufmerksamkeit, die Nadia Murad erfährt. Die Zelte stehen in langen Reihen dicht an dicht, am Rande dieser Reihen gibt es kleine Lebensmittelgeschäfte, Friseure, Reparaturwerkstätten, manchmal einen Gemüsegarten oder ein Stück Acker, auf dem Schafe weiden. Doch kaum jemand hier hat Arbeit, kaum jemand hat Geld, um mehr als das Notwendigste zu kaufen. Und niemand, mit dem man spricht, hofft noch auf Beistand der irakischen Regierung. Ohne die Hilfsorganisationen, die für Lebensmittel, Strom, Wasser, sanitäre Anlagen und Küchen sorgen, Gespräche für Traumatisierte anbieten und Gesundheitsstationen einrichten, wären sie sich vollkommen selbst überlassen. Ob der Friedensnobelpreis etwas ändert? Nein, sagt Shuoer, daran glaube er nicht. „Nadia Murad? Bis zu uns dringt das Echo ihrer Stimme nicht. Wir hören hier nur das Schweigen der Welt.“

Nadia Murad

Foto: Karim Jaafar/AFP/Getty Images

Verraten von Nachbarn

Shuoer ist mit seiner Verbitterung nicht allein. Während des Gesprächs mit ihm kommen viele junge Männer dazu. Aus dem, was sie sagen, spricht tiefste Hoffnungslosigkeit. Die meisten haben ihre Schulausbildung abbrechen müssen, und jetzt, in den Lagern, können sie nichts von dem nachholen, was ihnen verloren ging. Die Enge, der Mangel an Freiheit, die Öde des Alltags, die Hilflosigkeit, nichts für ihre Familien tun zu können, und nicht zuletzt der Zorn über ihre geraubte Jugend hat die jungen Männer bitter gemacht. Maskin sei nicht die Einzige, die sich umgebracht habe, die Selbstmordrate steige mit jedem Jahr, das Jesiden in den Lagern verbringen würden. „Viele von uns denken, es wäre besser zu sterben, als noch weiter so zu leben. Ohne Heimat, ohne Aussicht, dass sich etwas ändert, ist es schwer, einen Lebenssinn zu finden“, meint Shuoer.

Wer nach Zahlen über Selbstmorde in Flüchtlingscamps sucht, der findet nirgendwo Angaben, lediglich die Scnadhauplätze der Tragödien sind bekannt: das Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos etwa, wo in Interviews, die von der Organisation Ärzte ohne Grenzen geführt wurden, jeder vierte Jugendliche an Suizid dachte. Hoch ist auch die Rate in den Camps der Rohingya in Bangladesch oder unter den Internierten auf den Inseln Nauru und Manus, wohin Australien seine Flüchtlinge verbannt. Meist sind es junge Männer, die sterben oder sterben wollen. Vielleicht, weil ihnen der geduldige Fatalismus ihrer Eltern fehlt, vielleicht, weil sie nicht ertragen, das Leben auf ein Flüchtlingsdasein reduziert zu wissen, wenn man doch aufbrechen will ins eigene.

Die Lage der Jesiden spiegelt das Ausmaß einer der größten humanitären Krisen der Gegenwart. Zwischen Juni und August 2014, als der IS Gewalt und Tod in den Norden des Irak brachte, flohen eine halbe Million Menschen vor seinem Wüten in die autonome Region Kurdistan, die meisten in das Verwaltungsgebiet Dohuk – so viele, wie dessen gleichnamige Hauptstadt Bewohner hat, offiziell 500.000. Es kamen nicht nur Jesiden, auch Bewohner aus Mossul, der IS-Hochburg im Irak, Muslime und Christen aus Dörfern in der Ebene von Ninive, dazu 250.000 Menschen, die dem Krieg in Syrien entkommen waren. Die meisten besaßen nur noch, was sie auf der Flucht tragen konnten, fast alle hatten Schreckliches erlebt, waren krank und erschöpft. Der plötzliche Ansturm der Fliehenden überforderte die kurdische Regierung, die UN und die Hilfsorganisationen. Die humanitäre Notlage, die daraus folgte, erinnerte an jene nach dem Genozid in Ruanda 1994 oder nach den Kriegen auf dem Balkan.

Vergleicht man das Chaos des zweiten Halbjahres 2014 mit dem Ist-Zustand, sieht man sehr wohl Fortschritte: Die Anzahl der Flüchtlinge hat sich fast halbiert, weil viele den Irak verließen. Allein in Deutschland leben inzwischen 45.000 Jesiden. Die Befreiung der Stadt Mossul und der Dörfer im Umfeld vom IS ließ viele Bewohner zurückkehren.

Auch der subjektive Eindruck vieler Flüchtlinge, es werde nichts für sie getan, stimmt so nicht. Auf einer eigenen Website dokumentiert die kurdische Regionalexekutive, wie sie eine humanitäre Krise zu bewältigen sucht, unter anderem seien 35 Millionen Dollar in akute Nothilfe für Ernährung, Elektrizität und sanitäre Anlagen geflossen. 1,5 Millionen zahle die Regierung in Erbil jährlich an örtliche Bauern, auf deren Land die Camps errichtet wurden, für deren Aufbau wiederum 82 Millionen Dollar ausgegeben wurden. Sicher riesige Summen und doch ein Tropfen auf den heißen Stein. Dass es nun winterfeste Zelte gibt, keinen Hunger mehr und zumindest eine Basisversorgung, macht den Alltag vielleicht leichter, nicht aber die Zukunft heller. Zudem ist die Spendenbereitschaft für die Jesiden und andere Vertriebene im Irak zurückgegangen, nachdem der IS besiegt ist und mediale Aufmerksamkeit versiegt.

„Was wird geschehen, wenn keine Spenden mehr kommen? Wenn sich keine irakische Regierung und auch sonst niemand für uns interessiert? Werden wir dann für Generationen hier festsitzen?“, fragt Shuoer. Habe sich das Zeitfenster dafür, das Schicksal der Jesiden zu wenden, schon geschlossen? Die Tatsache, dass die Jesiden noch immer Flüchtlinge sind, hat viel mit den innerirakischen Verhältnissen zu tun. Eine Rückkehr in ihre Heimat ist auch deshalb erschwert, weil umstritten ist, zu wem der Distrikt Sindschar gehört: zum Irak oder zum autonomen Irakisch-Kurdistan? So geht der Wiederaufbau zerstörter Dörfer und Städte nur schleppend oder gar nicht voran. Zum anderen gehen internationale Hilfsgelder häufig an die Zentralregierung in Bagdad, werden von ihr zugeteilt – oder eben nicht. Meist eben nicht.

Der Hauptgrund aber, warum Hunderttausende trotz Enge und Entbehrung in den Lagern dort ausharren, ist die Furcht vor neuem Terror. 2014, als der IS ihre Heimat überrollte, haben die Jesiden erleben müssen, wie sich schlecht ausgerüstete kurdische Soldaten und Polizisten vor der Übermacht zurückzogen und sie der Ohnmacht überließen. Es waren häufig arabische Nachbarn, die den IS-Kämpfern zeigten, in welchen Häusern Jesiden leben. Ein empfundener Verrat, der zur Keimzelle neuer Konflikte wurde. „Wir wollen und können nicht mehr mit Arabern zusammenleben“, so sagen es die jungen Männer in Esyan.

Als die Gedenkfeier für Maskin beendet ist, gehen die Frauen, Mädchen und älteren Männer zurück in ihre Zelte. Nur die jungen Männer bleiben zurück, sammeln den Müll ein, sitzen schließlich auf einer Bank und fragen sich, was sie mit dem Rest des Tages anfangen sollen. Sich wenigstens im Lager bewegen zu können, sei für die Männer schon ein Vorteil, sagt Shuoer, die Mädchen verließen die Zelte nur in Begleitung. „Viele von ihnen haben dasselbe erlebt wie Nadia Murad, sie fürchten sich davor, dass sie wieder jemand verschleppt.“

Denn dass der IS wirklich besiegt sei, sagt Shuoer mit Nachdruck, daran glaube er nicht. „Solange uns niemand schützt, niemand garantiert, dass sich unser Schicksal nicht wiederholt, solange es in unserer Heimat keine Schulen, Kliniken und keine Arbeit gibt, werden wir hierbleiben. Und selbst wenn der Nobelpreis Wunder bewirkt und die Welt uns hilft, wird es noch Jahre dauern, bis wir nach Hause können.“

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