Statt Auge um Auge – Stein um Stein

Ruanda Einst erschlug der Hutu Charles Mugabanake die halbe Familie seines Nachbarn, des Tutsi Steven Gahigi. Heute haben sich die beiden versöhnt. Wie ist so etwas möglich?

Untern Flammenbaum wollen sie sitzen, aus dem die Äste rote Blüten herauspressen. Noch steht die Morgensonne tief, die Mauern der Kirche werfen Schatten, kühler Wind weht von den Hügeln. Stevens Hemd hat lange Arme, Charles trägt nur ein T-Shirt. Der Baum wirft einige rote Flammenblüten ab. Sie fallen auf Charles’ Kopf, Steven streicht sie mit einer Bewegung fort. Charles lächelt. Steven auch.

Vor Jahren, als sie sich wiedersahen, haben beide viel geweint. Bevor sie sich trafen, haben sie allein getrauert. Jeder um sich. Der eine einsam in seiner Kirche, die ihm kein Zuhause mehr gab. Der andere in der dreckigen, verwanzten Massenzelle eines Gefängnisses. Gemeinsam war ihnen nur ihr Hass. Steven sagt über Charles, er und seinesgleichen hätten ihm fast das Herz gebrochen. Charles sagt über Steven, er habe ihn und seinesgleichen wie Tiere gejagt. Dadurch sind sie einander verbunden. Erst durch den Tod, dann durch das Leben.

Es ist früher Morgen an einem Tag Mitte Februar, der Regen fällt nun häufiger, jeden Abend ziehen Wasserwände von den Hügeln in die Täler und lassen die Erde dampfen. Noch fünf Wochen, dann wird das Land am 6. April wieder den Jahrestag des Genozids begehen – viel Schmerz der Opfer wird aufbrechen, und die Schuld manchen Täter erstarren lassen. Jedes Jahr werden während der Gedenktage Menschen umgebracht, und jedes Jahr sagen die Überlebenden: Die Wunden sind zu frisch – der Völkermord ist mit uns.

Ntidigasubire – nie wieder, steht am Tor der Gedenkstätten, die über das Land verstreut sind. Ntidigasubire steht auf manchem Grab. Steven sagt: „Ich wuchs mit vielen Wunden in mir auf. Wunden, die man mir beibrachte, weil ich ein Tutsi bin. Doch wir wollen aufhören, davon zu reden. Wir wollen vergeben, besonders jenen, die sich in Demut vor ihren Opfern verbeugen. Wer sich vor seinen Opfern beugt, beugt sich vor Gott. Wer sich vor Gott beugt, dem ist verziehen.“

130 Mitglieder seiner Familie liegen in den Gräbern. Ein Schlag mit dem Panga, der Machete, die für die Feldarbeit genutzt wird. Hardliner in der damaligen ruandischen Regierung hatten 1994 die Hutu damit ausgestattet, auf dass sie loszögen und die Tutsi abschlachteten. Ein Schlag mit dem Panga traf den Arm von Stevens Tochter und trennte ihn fast ab. Nur der Umstand, dass er es mit seiner Frau und den drei Kindern schaffte, nach Burundi zu fliehen, rettete ihm das Leben.

Halbe Amphibien

Steven ist ein ruandischer Tutsi. Charles ein ruandischer Hutu. Es ist heute durch Gesetz verboten, diese Unterscheidung zu treffen. 16 Jahre nach dem Völkermord, der 100 Tage dauerte und an dessen Ende eine Million Leichen auf den Straßen, an den Berghängen und in den Tälern Ruandas lagen, sind alle nur noch Ruandesen. Anderes zu sagen, wird bestraft, weil es den Keim der Zwietracht in sich trägt. Aber es nützt nichts. Es waren Hutu, die Tutsi massakrierten. Man vergisst nicht, als Volk gelitten zu haben – Gesetz hin oder her.

Nyamata liegt eine halbe Autostunde von Kigali entfernt. Vom Zentrum der Hauptstadt mit den neuen Bürohäusern, gläsernen Fronten und der Hoffnung, Wohlstand und Moderne können die Wunden heilen, fährt man ins Viertel Kichiciro mit seinen Lehmhütten und Wellblechdächern. Jeder kennt jeden, jeder weiß, was der andere tat. Zwischen den Hütten und in den Hütten wohnen Armut, Bitterkeit und Erinnerung.

Dann geht die Fahrt über den Fluss Akagera, unter dessen Brücke sich einst die Leichen ineinander verkeilten, bis sie bündelweise im Wasser verwesten. Hinter dem Uferstreifen liegen die Sümpfe von Bugesera, Reet und Papyrus wachsen dort. Im April und Mai 1994 wurde das Moor von den Mördern durchkämmt, um jene zu finden, die sich dort versteckt hielten und bis zu den Schultern im Schlamm standen. Halbe Amphibien, nach einigen Tagen entkräftet, hungrig und durstig. Mancher kam hervor, hielt es nicht mehr aus und erwartete seinen Henker.

Charles meint: „Von Kind an war ich das Töten gewöhnt, mein Vater war ein Jäger. Töten war nichts für mich. Mein Vater sagte, wir haben uns 1959 von einer Herrschaft der Tutsi befreit, doch sie versuchen, sich die Macht zurück zu holen. Sie sind deshalb unsere Feinde.“

Steven erzählt: „Charles Familie, das waren unsere Nachbarn. Wir gaben ihnen eine Kuh. Solches zu tun, gilt hier als Zeichen tiefer Freundschaft.“

Jeder lebt in seiner Geschichte, seinem Gedächtnis. Jeder für sich. Sie sehen sich dabei nicht an. Stevens Hände sind immer in Bewegung. Stevens Worte werden schnell und hastig gesprochen – er sitzt auf dem Stuhl wie auf dem Sprung. Als wären ihm die Toten auf den Fersen. Charles dagegen bleibt in krummer Haltung. Die Augen auf den Boden, auf den schlammverkrusteten Füßen. Nur die Hände berühren sich manchmal. Wenn der eine vom Mord erzählt – dann der andere von der Einsamkeit des Überlebens.

Stevens Eltern, Geschwister, Tanten, Onkel, Neffen, Nichten schafften es nicht bis zur Grenze nach Burundi. Isata – im ganzen Land errichtete Straßenblockaden – wurden ihnen zum Verhängnis. Man brachte sie zurück nach Nyamata, wo Charles und die anderen schon auf neue Opfer warteten. „Ich wollte töten. Ich hätte noch mehr getötet, wenn sie uns mehr gebracht hätten.“

Die Kuh der Freundschaft – vergessen. Stattdessen den Panga in der Hand, Charles Arme sind kräftig, sie können das Langmesser niedersausen lassen. Als alle zerhackt waren, suchte er nach Steven. Der sollte ihm nicht entkommen. Doch er konnte den Nachbarn nicht finden, zerstörte stattdessen sein Haus und tötete sein Vieh. „Ich habe nichts gefühlt. Keine Schuld.“

Bapfuye Buhagazi – lebende Tote. So heißen in Ruanda Überlebende, die keine Familie mehr haben. Die mit schweren Wunden leben als Krüppel mit abgehackten Armen oder Beinen. Fast 16 Jahre sind vergangen. Keine Zeit, um zu heilen.

Steven sagt: „Als ich nach Nyamata zurückkam, sagte ich, Gott vergib mir, ich kann dein Wort nicht mehr verbreiten. Lange Zeit war in mir Schweigen. Mein Glaube war ausgelöscht, mein Leben zerstört. Doch selbst im Schweigen konnte ich meinen Psalm 51 nicht vergessen. Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen beständigen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir. Erfreue mich wieder mit deiner Hilfe und mit einem willigen Geist rüste mich aus.“

Seit 2003 gibt es in Ruanda eine Nationale Versöhnungskommission, die zwischen Tätern und Opfern vermittelt. Täter, die um Verzeihung bitten, sitzen Opfern gegenüber, die Verzeihung gewähren sollen. Wer geständig war und die Orte zeigte, an denen Leichen vergraben lagen, damit die Angehörigen sie bestatten konnten, durfte auf mildere Strafe rechnen.

Unter den Tätern

Inzwischen sind fast alle Prozesse vorbei, über 140.000 Täter wieder aus dem Gefängnis entlassen und in ein Leben Tür an Tür mit ihren einstigen Opfern zurückgekehrt. Aber die meisten Dörfer und Städte Ruandas sind klein, so dass alles geteilt werden muss: die Wege, die Kirche, der Markt, das Gasthaus, das zu beackernde Land, die Erinnerung. Kinder der Mörder auf einer Schulbank mit Kindern der Überlebenden. Es gibt Schmerz, Neid und Eifersucht, wenn der eine noch seine Familie hat, seine Gesundheit, seine Seele. Und der andere alles verlor.

Charles kam 1995 ins Gefängnis. 400 schliefen in einem Raum. 400, die einander ins Gesicht sahen und sagten: Wir sind unschuldig. Haben wir nicht getan, was uns gesagt wurde? Tötet die Tutsi, die Tutsi sind eure Feinde! Tötet zuerst, sonst töten sie uns!

Charles sagt: „Wenn im Gefängnis jemand von Schuld sprach, habe ich ihn bedroht und gesagt, wenn wir hier rauskommen, führen wir das zu Ende. Der Hass fraß mich auf. Wenn wir in Kolonne außerhalb des Gefängnisses arbeiteten, habe ich zu den anderen gesagt: Weigert euch, auf den Feldern von Tutsi zu arbeiten.“

Steven: „Ich musste dort beginnen, wo es mir am schwersten fiel. Mitten unter den Tätern. Ich wurde Gefängnispfarrer und lange, bevor man es wagte, in diesem Land überhaupt das Wort Versöhnung in den Mund zu nehmen, ging ich in die Zellen und predigte Versöhnung. Und je mehr ich verstand, dass Gott auch jenen vergeben hat, die ich hasste, desto kleiner wurde mein Hass.“

Charles erinnert sich, dass es ihn sehr erschrocken habe, als er seinen Nachbarn Steven plötzlich als Seelsorger im Gefängnis sah. „Wenn er kam, habe ich mich versteckt. Ich ertrug es nicht, ihn zu sehen. Viele kannten ihn, viele wussten, was sie ihm angetan hatten. Sie fürchteten sich vor ihm. Sie konnten nicht glauben, dass er zu uns kommt. Das Leben im Gefängnis ist grauenhaft eintönig, dass ich gern zur Kirche ging. Ich habe mich in die hinterste Bank gesetzt und den Kopf gesenkt. Ohne es zu wollen, erwuchs in mir das Gefühl der Schuld. Abends lag ich auf meiner Pritsche und fragte mich, ob Gott vergeben würde, was ich getan hatte. Eines Tages ging ich zu Steven. Ich hatte Angst vor der Begegnung. Er nahm mich in den Arm. Anfang 2003, als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, war mein Vater gestorben. Ich ging zu meiner Mutter und sagte ihr, ich würde Steven besuchen. Sie schrie mich nur an, was willst du bei diesen schlechten Menschen, die daran schuld sind, dass du im Gefängnis warst? Und ich ließ sie nicht im Unklaren darüber, Steven um Vergebung bitten zu wollen“.

Kubabarira, wörtlich übersetzt bedeutet es: „Leiden mit jemand anderem“, manchmal auch „miteinander weinen“. Die Anerkennung fremden Leidens ist zugleich eine Anerkennung gemeinsamen Mensch-Seins.

Gebeine in der Gruft

Steven sagt: „Als Charles in mein Haus kam, habe ich meine Arme geöffnet. Er blieb ganz nahe bei der Tür, er dachte wohl, ich täte ihm etwas. Er meinte, Jesus habe uns zusammen gebracht. Er wolle mich daher bitten, ihn nicht wieder fortzuschicken. Wir treffen uns seither regelmäßig. Wir essen zusammen, wir gehen zusammen wandern. Als er heiraten wollte, hatte er kein Geld und kein Haus. Ich sagte, du kannst nicht ohne Haus heiraten, lass dir helfen, ein Haus zu bauen. Ich habe ihm gesagt, von nun an würde ich ihn als meinen Sohn annehmen. Ich würde ihm helfen, wie ihm ein Vater hilft.“

Nicht Auge um Auge, sondern Stein um Stein. Ganze Siedlungen wurden inzwischen von den Tätern für die Opfer gebaut. Von einem wie Steven, der ein Opfer ist, und ein Haus für den Täter bauen half, hört man in Ruanda sonst nirgends.

Charles sagt: „Ich ging heim zu meiner Mutter und sagte, diese Leute, von denen du behauptest, sie seinen unsere Feinde, bauen für mich ein Haus. Ich fragte sie, wo denn der Hass sei, den sie mich lehrte.“

Lange schon steht die Sonne hoch über Nyamata. Wenn man den Flammenbaum, unter dem die Männer sitzen, verlassen wollte, den staubigen Weg hinab gehen, die Straße überqueren und auf der anderen Seite den Hügel hinaufsteigen würde, käme man zur katholischen Kirche. In deren Garten wehen violette Fähnchen als Zeichen des Erinnerns an den Genozid. Fast 10.000 Menschen wurden hier getötet. In der Gruft unter dem Gotteshaus stapeln sich ihre Gebeine, zwischen den Kirchenbänken liegt noch die Kleidung. Der Geruch des Todes hängt auch über anderthalb Jahrzehnte später noch dort. Wenn man nach Nyanza, nach Bisesero, Kibuye, Ntarama oder Murambi fahren wollte, an all die anderen Stätten des Horrors und des Massenmords, böte sich einem das gleiche Bild. „Vergebung“ – steht auf einer grauen Lehmwand, hinter der die Toten liegen – „ist die höchste Form der Liebe.“

Andrea Jeska ist als Reisekorrespondentin in Zentrafrika unterwegs

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