Erregungshunger

These Tristan Garcia sagt, seit Erfindung der Elektrizität sucht der Mensch das Erlebnis
Ausgabe 28/2017

Beim Gefühl der Intensität gibt es ein Problem: Wenn man ihm den kleinen Finger reicht, will es die ganze Hand. Wo es zu einem Ziel des Lebens wird, zu einem Ethos gar, ist das Scheitern programmiert, denn wer immer mehr will, bekommt – wie verhext – immer weniger. Um dieses Dilemma geht es in Tristan Garcias Langessay Das intensive Leben. Er beginnt zunächst wie eine der üblichen Zeitdiagnosen von der Stange. Heute strebe alles nach Steigerung und Intensivierung der Erlebnisse, und vom allfälligen Drogenkonsum, den Kaufräuschen bis zum Extremsport lassen sich dafür natürlich auch viele Belege finden.

Interessant wird es bei der genaueren Betrachtung des Phänomens selbst. Denn die Intensität ist eine eigenartige Sache. Sie kann nicht unbedingt durch einen Inhalt hergestellt und auch nicht von außen gemessen werden. Höre ich diese Bachsonate in diesem Augenblick besonders tief oder nicht? Intensität ist im Grunde nicht messbar. Während Quantitäten durch Vergleich von etwas mit etwas anderem zu bestimmen sind – dieser Baum ist größer als jener –, ist Intensität ein immanentes Bezugsmaß, „das Prinzip eines systematischen Vergleichs eines Dings mit sich selbst“, definiert Garcia. Sie ist wahrnehmbar durch Zunehmen oder Abnehmen, als Variation. Sie ist eine Qualität, die wir dennoch als Quantität behandeln.

Der kollektive Burn-out

Die Intensität als metaphysisches Prinzip, als etwas, das den Substanzen innewohne, sei verloren gegangen, das ist die historische Erzählung, die Garcia danach anstimmt. Garcia führt hierzu den aristotelischen Gedanken der Entelechie an, demzufolge alle Dinge und Wesen ihre Vollendungsmöglichkeiten bereits in sich enthalten. So kann etwas an sich mehr oder weniger sein, mehr oder weniger weiß, mehr oder weniger Baum, mehr oder weniger Mensch. Der Sündenfall geschah – natürlich – mit Descartes und dem Rationalismus, der die Dinge als bloße Extensitäten begriff, als reine Materie, während Geist, Kraft, Bewegung als getrennte Prinzipien galten, die von außen hinzukommen. Seither sei den Dingen die Intensität entrissen, Identität und Intensität träten auseinander. In der entzauberten Welt – so lässt sich Garcias Ableitung zusammenfassen – sind die Dinge kalt und leblos, während Kraft und Lebendigkeit zu unerklärbaren, quasi magischen Prinzipien mutieren, die sich hinterrücks zum angebeteten Ideal aufschwingen. Garcia macht das an der Faszination für Elektrizität fest, die ab dem 17. Jahrhundert begonnen habe. In ihr habe man ein Bild gefunden, um das aus der rationalistischen Welt Verdrängte zu kompensieren. Es entstanden Philosophien der Intensität bei Nietzsche, Whitehead und Deleuze und elektrisierte Lebenstypen wie der Libertin, der Romantiker mit Vorliebe fürs Gewitter und der Rock-’n’-Roller mit seiner E-Gitarre. Intensität habe sich seither von einem Ideal für einige zu einer Lebensnorm für alle demokratisiert mit der in unseren Tagen bekannten Folge des kollektiven Burn-outs.

Tristan Garcia, Jahrgang 1981 und Schüler von Alain Badiou, gilt als französische Nachwuchshoffnung. Die Geschichte, die er in Das intensive Leben erzählt, ist enttäuschend plump. Der Text liest sich wie Brei mit Klümpchen, er ist hinreichend dunkel, dass die Leserin zwar Großes ahnen, aber keinesfalls genau nachvollziehen kann, ob das jeweilige Argument oder die Sache mit der Elektrizität so stimmt. Garcia trifft gelegentlich ins Schwarze, etwa mit kleineren zeitdiagnostischen Beobachtungen. So sieht er die „Condition postmoderne“ mit ihrer Ablehnung feststehender Identitäten als eine Figur des Intensivismus: Wir handeln oder performen mehr oder weniger männlich und weiblich, sind aber keinesfalls mehr Mann oder Frau. Garcia konstatiert auch, dass das Intensitätsideal gegenwärtig an ein Ende komme beziehungsweise sich von großelektrischen zu elektronischen Spannungszuständen homöopathisiere. Die Wellness-, Gesundheits- und Meditationsangebote, die seit Jahren boomen, sind mit „elektronischer Verheißung“ jedenfalls witzig beschrieben.

Logik der Intensität

Das eigentlich wichtige Thema des Buches aber ist die „Logik der Intensität“, die der Autor zu fassen sucht, und in der eine große Frage schlummert. Garcia beschreibt Intensität wie eine Sucht: Nach ihr zu streben, führe in ein Dilemma, denn sie müsse sich stets steigern, um den einmal erreichten Effekt wieder zu erzielen. In vielen Wendungen wird dieses Paradox ausgeführt: „Was gleich bleibt, lässt nach.“ Garcia erklärt diesen Mechanismus mit einer impliziten Anthropologie beziehungsweise einer Phänomenologie des Gefühlslebens: Empfindung stumpfe ab, wenn sie eine Regel erkenne. Dass die Erlebnisintensität mit zunehmender Erfahrung abnimmt, so als erschöpfe sich das geistige Leben in dem Maße, in dem es sich die Welt aneignet, ist ein offenbar notwendiger fataler Effekt der Gewöhnung. Eine Bachsonate lässt sich tatsächlich nicht endlos hören, ohne dass sie stumpf wird. Garcia beschreibt die Listen, die wir unternehmen, um Intensität zu halten, etwa durch Variation, Beschleunigung oder fortwährende Suche eines „ersten Mals“, was er „Primaverismus“ nennt. Aber letztlich werde der Geist auch das als Trick erkennen und verfange sich in einer „Routine der Intensitäten“.

Wie also sich verhalten? Man könnte ins Gegenteil verfallen, wieder nach Heil, einer Religion, der Negation von Intensität suchen, wie manche es tun. Aber den Weg ins Zen-Kloster propagiert Garcia nicht. Zum Schluss wird die Lektüre noch richtig spannend, wenn der Autor in die Zielgerade zur Lösung des Dilemmas einbiegt. Er rät schließlich zum Widerstehen, zum Sowohl-als-auch eines Ausgleichs zwischen intensivem Leben und abstraktem Denken, was anmutet wie eine Rückkehr zur Bourgeoisie des Mittelwegs.

Nicht gegen die Intensität, sondern gegen ihre Verabsolutierung ist sein Buch geschrieben.

Info

Das intensive Leben. Eine moderne Obsession. Tristan Garcia Ulrich Kunzmann (Übers.), Suhrkamp 2017, 215 S., 24 €

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