Wie man in den Sozialwissenschaften weiß, ist es ungemein schwierig, komplexe Systeme durch gezielte Interventionen zu steuern. Ob Finanzkrisen oder Pandemien – es gibt Zeitverzögerungen, Rückwirkungen, vielfache Wechselwirkungen und unbeabsichtigte Nebenfolgen. Dietrich Dörner hat in seinem Wissenschaftsbestseller „Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen“ an zahlreichen Beispielen anschaulich gezeigt, wie sich gute Absichten oft ins Gegenteil verkehren.
Noch schwieriger ist die Steuerung, wenn es kein Feedback über die Wirkung von Maßnahmen gibt. Die britische Regierung hat zunächst den Weg der Politik einer „kontrollierten“ Infektion eingeschlagen, um in der Corona-Krise „Herdenimmunität“ zu erreichen. Wenig später musste umgesteuert werden. Damit ging Zeit verloren für andere Maßnahmen wie Schulschließungen und Versammlungsverbote, die die meisten EU-Staaten ergriffen haben.
Komplexe Systeme zu steuern ist schwierig
Ist eine Epidemie nicht mehr einhegbar, die Ansteckungsrate hoch und das Virus tödlich, dann lehren China und Südkorea, dass „social distancing“ erfolgversprechend sein kann, wenn auch unter hohen Kosten. Denn selbst eine geringe Sterblichkeitsrate kann apokalyptische Folgen haben, wenn Bevölkerungen weitgehend und in kurzer Zeit infiziert werden. Auch eine vielzitierte Studie über die Grippeepidemie von 1918 in amerikanischen Großstädten legt diese Politik nahe. St. Louis hatte sehr früh Schulschließungen veranlasst, Pittsburgh nach dem Ausbruch noch länger Versammlungen zugelassen. St. Louis hatte die geringste (zusätzliche) Sterblichkeitsrate der 43 untersuchten Städte, Pittsburgh mit mehr als doppelt so vielen Fällen die höchste Sterblichkeitsrate. Vorsicht aber, wenn Maßnahmen wieder zurückgenommen werden. Die Epidemie flackerte in einigen Städten wieder neu auf, wie die historische Datenanalyse zeigt.
Noch aber haben wir keine Gewissheit, ob die Maßnahmen greifen. Deutschland hat sich für eine Politik zunehmender sozialer Distanzierung entschlossen. Diese wird auch durch die Ergebnisse von Simulationsmodellen mit unterschiedlichen Szenarios gestützt. Doch alle Modelle basieren auf Annahmen und verlässliche Daten sind rar. Wie tödlich ist das Virus wirklich? Wie viele Menschen sind infiziert? Wie viele leicht, mittelschwer und schwer? Und wie entwickelt sich das alles über die Zeit? Es ist richtig Maßnahmen einzuleiten, die Wirkung zu kontrollieren, dann zu adjustieren, eventuell Maßnahmen zu verschärfen oder zu lockern.
Erstmals wird eine Art experimenteller Politik geprobt. Nur benötigt man für experimentelle, evidenzbasierte Politik verlässliche Daten, um die Wirksamkeit der Therapie und die nötige Stärke der Dosis in jeder Phase beurteilen zu können. Die womöglich sehr hohe Dunkelziffer der Infektionen lässt sichere Schlüsse nicht zu, nicht über die wirkliche Ansteckungsgefahr und nicht über die Tödlichkeit des Virus. Außerdem können Träger des Virus, die von ihrer Infektion nichts wissen, auch nicht gewarnt und isoliert werden. Sie stecken andere an und tragen unwissentlich zur Verbreitung bei.
Wer kann verlässliche Daten gewinnen?
Die Digitalkonzerne kennen unser Verhalten, unsere Mobilitätsmuster, welche Biersorte wir bevorzugen, wo wir den Urlaub verbringen (oder besser verbrachten) und welche Filme wir auf Netflix streamen. Trotz Unmengen von Big Data wissen wir hingegen wenig über die Verbreitung des Virus. Es gibt in der Statistik und Umfrageforschung aber ein probates Mittel, um solche Informationen zu gewinnen: Wenn Katastrophen passieren, politische Ereignisse eintreten oder Wahlen geplant sind, können Umfrageinstitute sehr schnell Meinungen, Reaktionen und Wahlabsichten anhand einer repräsentativen Stichprobe erheben.
Diese Methoden der empirischen Sozialforschung sollte man jetzt einsetzen. Um wirklich verlässliche Daten zu gewinnen, wäre es sinnvoll, eine größere Zufallsstichprobe von Personen aus den Gemeinderegistern zu ziehen, diese auf das Virus testen und in einer kurzen telefonischen oder schriftlichen Befragung Angaben zu demografischen Merkmalen, Mobilität und sozialen Netzwerken einholen.
Solche Gesundheitsstudien sind eigentlich nichts Neues. Im Rahmen des einzigartigen und größten Projekts, der „Nationalen Kohorte“ (NAKO), werden seit 2014 Befragungsdaten und zugleich medizinische Daten anhand einer Zufallsstichprobe von 200.000 Personen im Alter von 20 bis 69 Jahren erhoben. In 18 über das Bundesgebiet verteilten Studienzentren werden Blutproben, Speichelabstrich, Stuhlproben, Nasenabstrich und Urinproben entnommen und mit Befragungsdaten unter strengen Datenschutzauflagen verknüpft. Bei einer Teilgruppe von 30.000 Personen wird sogar das bildgebende MRT-Verfahren eingesetzt. Wenn in normalen Zeiten Millionenbeträge, zweifellos für höchst sinnvolle Ziele, an die Hand genommen werden, wäre es doch umso wichtiger, in diesen Krisenzeiten einen Bruchteil der Mittel zu verwenden, um sich ein genaueres Bild der Lage zu machen.
Eine Zufallsstichprobe wie die "Nationale Kohorte"
Im Unterschied zur Nationalen Kohorte müsste eine Corona-Erhebung ohne direkten Kontakt erfolgen. Die Interviews könnten telefonisch, schriftlich oder online unternommen werden („mixed methods“ heißt es in der Sozialforschung). Die Tests sind nicht invasiv; man hat genügend Erfahrung, sie ohne Ansteckungsgefahr durchzuführen. Da der Anteil der Infizierten in der Bevölkerung vermutlich noch relativ gering ist, benötigte man eine ziemlich große Stichprobe mit einem Umfang von mindestens 10.000 Personen. So könnte man die tatsächliche Verbreitung der Epidemie, die „Prävalenz“ der Infektionen, und damit auch die Dunkelziffer hochrechnen. Dass dabei strenge Datenschutzauflagen erfüllt werden müssen, versteht sich von selbst. Um Kosten und Zeit zu sparen, könnte die Erhebung auch an laufenden, qualitativ hochwertigen Panels andocken.
Am besten führt man die Untersuchung als Panel durch, also als wiederholte Untersuchung bei den gleichen Personen, um Kenntnis von der Dynamik der Entwicklung zu erhalten. Die meisten der zufällig ausgewählten Personen wären sicher froh, an den Tests teilnehmen zu dürfen. Es muss aber aufgepasst werden, dass möglichst viele Personen in der Stichprobe mitmachen. Wenn es nur diejenigen sind, die Symptome haben oder aus anderen Gründen bevorzugt teilnehmen, erhält man wieder krass verzerrte Daten. Die Teilnahme könnte zur Pflicht gemacht werden wie beim Mikrozensus oder es werden Belohnungen vorgesehen, sogenannte „incentives“, wie das bei vielen, wichtigen Surveys praktiziert wird. Wichtig ist nur, dass die sogenannte Responsequote hoch ausfällt.
Angesichts der sehr großen sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Politik, würden die Kosten der beschriebenen Erhebung kaum ins Gewicht fallen. Der Medizinstatistiker Ioan Ioannidis fordert solche Erhebungen derzeit schon nachdrücklich, denn erst wenn verlässliche Daten vorliegen, kann man die eingeleiteten Maßnahmen feinsteuern und adjustieren – und nicht zuletzt gegenüber der Bevölkerung glaubwürdig rechtfertigen.
Nur zu begrüßen ist das Vorhaben eines Forschungsverbunds unter Leitung des Braunschweiger Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung. Der Forschungsverbund plant eine großangelegte repräsentative Studie mit einer Stichprobe von 100‘000 Personen, die unter Wahrung der Anonymität auf Antikörper gegen das Corona-Virus getestet werden sollen.
Die harten politischen Maßnahmen zur sozialen Distanzierung mögen vollauf berechtigt sein. Die Einsicht in der Bevölkerung und die Bereitschaft, die Maßnahmen zu unterstützen, sich an die Regeln zu halten und auch anderen Hilfe zu leisten ist noch sehr hoch. Aber die Wirksamkeit muss auch überprüft werden. Derzeit bewegen wir uns wie ein Pilot im Blindflug durch dunkle Wolken, ohne Höhenmesser, ohne Kenntnis der Geschwindigkeit und ohne Wissen um die Topographie der Landschaft unter uns. Das sollten wir sobald wie möglich ändern!
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