Eine Kriegserklärung

Terror Nach dem Mord an Walter Lübcke muss der Staat endlich das Zusammenspiel von Netzwerkstrukturen und autonomen Zellen in der rechten Szene begreifen
Ausgabe 25/2019
Bei der Aufklärung des Mordes an Walter Lübcke dürfen die Behörden die Fehler des NSU-Verfahrens nicht wiederholen
Bei der Aufklärung des Mordes an Walter Lübcke dürfen die Behörden die Fehler des NSU-Verfahrens nicht wiederholen

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Vor Kurzem habe Stephan E. noch den Rasen beim Schützenverein Sandershausen gemäht, erinnert sich der Vereinsvorsitzende. Auch die Nachbarn in der Einfamilienhaussiedlung im Kasseler Osten können nur Gutes sagen über den höflichen jungen Mann, der seit 14 Jahren mit Frau und zwei Kindern in einem weißen Haus mit Spitzgiebel wohnt. Keine auffälligen Besucher, keine radikalen Sprüche, ein normaler, freundlicher Familienvater sei das, sagen die Nachbarn über den Mann, der den CDU-Politiker Walter Lübcke vor zwei Wochen mit einem Kopfschuss hingerichtet haben soll. Der Biedermann als Brandstifter, als eiskalter Mörder?

Seit der Selbstenttarnung der Mörderbande Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) vor fast acht Jahren weiß man, dass sich auch rechte Terroristen hinter einer bürgerlichen Fassade zu verstecken wissen. Der NSU in Zwickau hatte Blumenkästen vor den Fenstern und Katzen in der Wohnung, die Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sammelten Kastanien für den Herbstschmuck zu Hause, plauschten mit den Nachbarn und suchten Urlaubsbekanntschaften auf Campingplätzen. Niemand kam auf die Idee, dass so ordentliche deutsche Männer mit Sinn fürs Häusliche kaltblütige Hassverbrechen begehen.

Im Fall von Stephan E. fällt auf, dass der heute 45-Jährige seit seiner Jugend ein aktiver, fest in der Nazi-Clique verankerter Rechtsextremist war. Der mehrfach Vorbestrafte gehörte mindestens bis 2010 zum harten Kern der rechten Szene in Kassel. In den letzten Jahren zog sich E. mehr und mehr zurück, beim Verfassungsschutz galt er nicht länger als rechter Gefährder. Lag es an seinem neuen Leben als Familienvater – oder war der Rückzug taktisch geprägt, um vom Radar der Sicherheitsbehörden zu verschwinden? War er ein rechter Schläfer, der auf seine Stunde zum Losschlagen wartet? Sollte das seine Absicht gewesen sein, dann hat er anderen potenziellen Rechtsterroristen vorgemacht, wie man den Behörden durchs Netz schlüpfen kann.

Die Bundesrepublik jedenfalls hat auch nach nunmehr vier Jahrzehnten rechten Terrors noch immer nicht dazugelernt und stuft jeden Mordanschlag als Tat eines Einzelnen oder einer isoliert agierenden Gruppe ein. Dabei haben sämtliche Ermittlungen zu rechtsterroristischen Verbrechen seit 1980 stets belastbare Indizien dafür zu Tage gefördert, dass die ausführenden Täter sich auf das Netzwerk eines nationalsozialistischen Untergrundes in Deutschland stützen konnten, das ihre Taten inspirierte und förderte. So dürfte es auch – sollte sich der Tatverdacht gegen Stephan E. bestätigen – beim Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gewesen sein.

Im islamistischen Terrorbereich wird Al-Qaida schon seit Jahren von Sicherheitsexperten nicht mehr als Organisation angesehen, die Anschläge anordnet und vorbereitet. Stattdessen begreift man die einstige Gründung Osama bin Ladens inzwischen als ein Netzwerk ideologisch verbundener autonomer Kämpfer und Zellen. Diese handeln auf eigene Entscheidung, greifen dabei aber auf die logistische Unterstützung ihres Netzwerkes zurück. Warum sperren sich Verfassungsschützer und Fahnder hierzulande hartnäckig gegen die Überlegung, dass auch der rechte Terror so funktionieren könnte? Da gibt es zum Beispiel Combat 18 (C18), das schon Anfang der 1990er Jahre als international organisiertes Terrornetzwerk und bewaffneter Arm der europaweiten Neonazi-Organisation Blood&Honour gegründet worden ist. Die Untergrundbewegung C18 orientiert sich am terroristischen Konzept des führerlosen Widerstands („leaderless resistance“). Das heißt, dass die Organisation lediglich Anleitungen zum Bombenbau verbreitet und Listen von Anschlagszielen erstellt, an denen sich autonom agierende C18-Zellen orientieren können. Nach Erkenntnissen des Antifa-Recherchenetzwerkes EXIF wurde im März 2012 in Schweden dem zu dieser Zeit weitgehend eingeschlafenen Netzwerk neues Leben eingehaucht. Die unter der Parole „Reunion 28“ wiedererweckte C18-Organisation wird seitdem von Protagonisten aus England, Deutschland, Skandinavien, Belgien und Holland dominiert. Der jetzt festgenommene Stephan E. soll Combat 18 nahestehen.

Auch im Fall der Zwickauer NSU-Zelle gab es deutliche Hinweise auf eine Kooperation des Trios mit bundesweiten Blood&Honour- und C18-Strukturen. Dennoch wollten sich die Ermittler nicht dazu durchringen, das Netzwerk der Helfer, Unterstützer und Mittäter umfassend aufzuklären. Stattdessen propagierten sie von Beginn an die These einer autonom agierenden Gruppe, die auf sich gestellt Opfer auswählte und Morde beging. Politisch war das so gewollt. Berlin wollte schnelle Ermittlungserfolge und wohl Diskussionen über einen Sicherheitsapparat abwenden, der seit vier Jahrzehnten im Kampf gegen den rechten Terror kläglich versagt hat.

Bei der Aufklärung des Mordes an Walter Lübcke dürfen die Behörden die Fehler des NSU-Verfahrens nicht wiederholen. Wenn Neonazis nun zur gezielten Tötung von Politikern übergehen, sollte dies als das verstanden und ernst genommen werden, was es ist: eine Kriegserklärung an Staat und demokratische Gesellschaft.

Andreas Förster schreibt unter anderem über Terrorismus, Geheimdienste und Überwachung – so auch auf Seite 5 dieser Ausgabe

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