Manchmal wache er nachts auf und gehe zum Denkmal am Münchner Olympia-Einkaufszentrum, erzählte Smajl Segashi vor einem Jahr in einer Dokumentation. Dann schaue er das Bild seiner 14-jährigen Tochter Armela an, die dort von einem Rechtsterroristen erschossen wurde. Sie fehle ihm so sehr, sagte Segashi. Und dass er seit dem Anschlag nicht mehr als Busfahrer arbeiten könne. „Kinderstimmen zu hören – es war für mich unmöglich.“
Vor fünf Jahren, am späten Nachmittag des 22. Juli 2016, erschoss der 18-jährige David S. in dem Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) und in einem benachbarten Schnellrestaurant neun Menschen, bevor er sich selbst tötete. Insgesamt 35 weitere Personen wurden durch Schüsse verletzt. Die Todesopfer waren Sinti, Roma oder migrantischer Herkunft, mit Wurzeln in der Türkei, in Griechenland oder dem Kosovo. Während der Tat hatte S. seinen Hass auf Ausländer laut herausgeschrien. So rief er etwa, als er seinem letzten Opfer, dem aus Kosovo stammenden Dijamant Zabërgja in den Kopf schoss: „Ich bin kein Kanake, ich bin Deutscher!“ Immer wieder soll S., der iranische Wurzeln hat, gerufen haben, er sei ein Arier.
Im Rückblick weist die Münchner Terrortat frappierende Parallelen zum Mordanschlag von Hanau am 19. Februar 2020 auf. Auch dort beging ein rechtsextremistisch eingestellter Täter seine Morde in aller Öffentlichkeit in der Innenstadt. Innerhalb weniger Minuten erschoss Tobias R. an zwei Tatorten in Hanau insgesamt neun Menschen und wählte dabei seine Opfer nach ihrem augenscheinlichen Migrationshintergrund aus. Wie der Münchner Täter tötete sich auch der 43-jährige Mörder aus Hanau schließlich selbst, nachdem er in der elterlichen Wohnung zuvor noch seine kranke Mutter erschossen hatte.
„Rächer“ oder „Kämpfer“?
Anders als vor fünf Jahren in München aber wurde der Anschlag von Hanau nach einigen Monaten von den deutschen Sicherheitsbehörden als rechtsextremistischer und rassistisch motivierter Terrorakt eingestuft. Zwar habe der Täter unter einer paranoiden Schizophrenie gelitten, aber auch zugleich einer „rechtsradikalen Ideologie“ angehangen, stellte ein von der Bundesanwaltschaft bestellter forensisch-psychiatrischer Gutachter fest. Das Denken des Täters sei demnach eine Mischung aus krankheitsbedingten Verschwörungsfantasien und einem „politisch-ideologischen Fanatismus“ gewesen. Krankheit und Ideologie seien untrennbar miteinander verschmolzen gewesen.
Im Fall des Münchner OEZ-Attentats dauerte es dagegen mehr als drei Jahre, bis bayerischer Verfassungsschutz und Landeskriminalamt bei der Bewertung des Anschlags „von einer politischen Motivation im Sinne des Definitionssystems der ,Politisch motivierten Kriminalität‘“ sprachen. Bis dahin hatten die Behörden an der Einschätzung eines Amoklaufs ohne politisches Motiv festgehalten, zu dem sich David S. aufgrund erlittenen Mobbings und hierdurch selbstwertbelastender Kränkungen entschlossen haben soll. Für den Verfassungsschutz war S. daher „aufgrund seines Selbstbildes eher ein psychisch kranker Rächer“ und kein „terroristischer Kämpfer“. Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt stellten in ihrem gemeinsam verfassten Bericht fest, dass auch die Auswahl der Opfer dem nicht entgegenstehen würde: Die Mitschüler, von denen sich S. angeblich jahrelang gemobbt fühlte, seien überwiegend Südosteuropäer gewesen – daher habe der Täter seine Opfer nach ähnlichen äußerlichen Merkmalen ausgesucht, lautet die Schlussfolgerung. S. habe zwar ideologische „Anleihen aus dem Bereich Rechtsextremismus“ gehabt, hieß es in dem Abschlussbericht, aber seine persönliche Kränkung habe stets im Vordergrund gestanden.
Auch das bayerische Innenministerium erklärte noch lange nach dem Anschlag, David S. habe seinen tief empfundenen Hass auf die für das Mobbing verantwortlichen Mitschüler „mit der Zeit auf Personen projiziert, die diesen in Alter, Herkunft, Aussehen und Lebensstil ähnlich waren“. So entwickelte er eine tiefe Abneigung gegen Heranwachsende mit Migrationshintergrund.
Diese jahrelang von Politik und Behörden mit Zähnen und Klauen verteidigte Einschätzung macht angesichts der Faktenlage noch heute fassungslos. Ignorierte sie doch völlig die verfestigte rassistische und rechtsextreme Einstellung des Attentäters. Dabei hatten Zeugen bestätigt, dass David S. mehrmals den Hitlergruß gezeigt, sich antisemitisch geäußert, „Sieg Heil“ gerufen und Hakenkreuze gezeichnet habe. Auch habe er immer wieder stolz auf seine persischen Wurzeln verwiesen. Gegenüber Dritten habe er dann gesagt, dass „der Ursprung der Arier in Persien gewesen“ sei. Bei Onlinespielen sei er zudem schon in den Jahren vor seinen Morden offen rassistisch aufgetreten.
Nicht zuletzt zeigt schon die Auswahl des Tattages, in welcher Tradition sich S. mit seinem Mordanschlag am Münchner OEZ sah. Der 22. Juli 2016 war der fünfte Jahrestag der rechtsterroristischen Attentate des Norwegers Anders Breivik, der im Jahr 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya insgesamt 77 Menschen tötete. In Dokumenten, die Ermittler auf dem Computer von S. fanden, bezeichnete er Anders Breivik als ein Vorbild. Wie der Norweger – und später auch der Attentäter von Hanau – hinterließ David S. ein „Manifest“, das er bereits ein Jahr vor der Tat verfasst hatte. Das zweiseitige Papier trägt den Titel „Die Rache an diejenigen, die mich auf dem Gewissen haben“. Darin schrieb David S. von einer „Asylflut“ und vom Vaterland, das geschützt werden müsse.
Über seinen Münchner Stadtteil Feldmoching-Hasenbergl, in dem rund 50 Prozent Ausländer leben, schrieb er: „Die ausländischen Untermenschen mit meist türkisch-balkanischen Wurzeln regieren die Kriminalität und sind für die Destabilisierung des Stadtteils verantwortlich. Sie haben einen unterdurchschnittlichen IQ, sind sehr aggressiv und haben keinerlei Rücksicht auf Gebäude, Drogeriemärkte usw. Die Lebenserwartungen dort sind für die zivilisierten Menschen nahezu null.“
Am Tattag verfasst er auf seinem Computer ein weiteres Dokument. „Das Mobbing wird sich heute auszahlen. Das Leid, was mir zugefügt wurde, wird zurückgegeben“, heißt es darin. Abgespeichert ist der Text unter dem Dateinamen „Ich werde jetzt jeden deutschen Türken auslöschen egal wer.docx“.
Jahrelang weggeschaut
Ein Jahr nach dem Anschlag von Hanau fand im vergangenen Februar eine bewegende Trauerfeier für die Opfer und ihre Hinterbliebenen statt, auf der auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine Rede hielt. Spitzenpolitiker aller Parteien mahnten mehr Aufmerksamkeit und Entschlossenheit im Kampf gegen Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus an. Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) etwa sagte, dass es „rechten Terror und strukturellen Rassismus in unserem Land“ gebe. „Und es gibt zu viele, die das nicht sehen wollen, die wegschauen, die abstreiten“, so Scholz.
In München, wo nach der Mordtat von David S. ebenfalls jahrelang weggeschaut wurde, wird es an diesem fünften Jahrestag des OEZ-Attentats eine große Gedenkveranstaltung geben. Mit CSU-Chef Markus Söder nimmt dabei erstmals ein bayerischer Regierungschef an dem Gedenken teil. Es wird Zeit.
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