Zwei Prozesse, zwei rechtsterroristische Mörder, ein psychiatrischer Gutachter: Norbert Leygraf hat Stephan Balliet, der am 9. Oktober 2019 die hallesche Synagoge überfallen wollte und zwei Menschen tötete, und Stephan Ernst untersucht, der in der Nacht zum 2. Juni 2019 den CDU-Politiker Walter Lübcke mit einem Kopfschuss tötete. Die Gutachten des angesehenen Experten Leygraf, der das Institut für forensische Psychiatrie in Essen leitet, sind in den vergangenen Wochen bei den Prozessen gegen die beiden Täter in Magdeburg und Frankfurt am Main vorgestellt worden. Ein Vergleich der Gutachten zeigt auffällige psychische Gemeinsamkeiten zwischen Balliet und Ernst auf, aber auch Unterschiede.
Psychiater Leygraf hatte das Verhalten und Auftreten der Angeklagten in den Verhandlungen beobachtet. Zudem flossen in seine Gutachten die Ergebnisse stundenlanger Gespräche ein, die er mit Balliet und Ernst in der Untersuchungshaft geführt hat. Bei diesen sogenannten Explorationen werden bestimmte Sachverhalte und Stimmungen der untersuchten Personen erkundet.
Stephan Ernst war von Leygraf an zwei Tagen im Januar insgesamt neun Stunden lang exploriert worden. An keiner Stelle in den Gesprächen habe er den Eindruck gewonnen, dass der Angeklagte ein tatsächlich offenes Gespräch geführt habe, sagte der Gutachter. Ernst habe sich zwar höflich, aber immer auch vage und vorsichtig geäußert, viele „Irgendwies“ und „Irgendwos“ benutzt. „Ich hatte den Eindruck einer sehr kontrollierten Aussage“, sagte Leygraf. Ernst habe nicht spontan auf Fragen reagiert, sondern häufig erst nach längeren Pausen oder Nachfragen, dann aber weit ausholend geantwortet. Seine Aussagen seien dabei wenig glaubwürdig gewesen. Emotionen habe Ernst nur gezeigt, als es um die Beziehung zu seinem Vater ging, den er in seiner Einlassung vor Gericht als gewalttätig und lieblos beschrieben hatte.
Balliets einzige Emotion: Hass
Auch Balliet, mit dem Leygraf an drei Tagen insgesamt zwölf Stunden lang sprach, habe in seinen Aussagen kontrolliert und vorsichtig gewirkt, so der Gutachter. Das bezog sich aber – offenbar anders als bei Ernst – vor allem auf seine Lebenssituation. Wenn sie auf seine Familie, seine Biografie und seine Lebensumstände zu sprechen gekommen seien, sei Balliet wortkarg und einsilbig geworden. Sei es hingegen um seine politischen Überzeugungen oder die Planung und Umsetzung seiner Attentatspläne gegangen, dann sei er geradezu in einen „Redefluss“ verfallen. In diesen Passagen des Gesprächs sprang der Angeklagte laut Leygraf häufig auf und lief umher, er habe mitunter unmotiviert schrill aufgelacht, Sprache und Mimik seien oft überzogen und theatralisch gewesen.
„Mit Freude und Stolz“ habe Balliet bei diesen Gelegenheiten seine antisemitische und rassistische Gedankenwelt ausgebreitet. „Sein deutlich erkennbarer Hass war die einzige feststellbare tiefgehende emotionale Bewegung“, sagte der Gutachter. Bei der Schilderung der von ihm begangenen Morde ließ Balliet hingegen „nicht den Hauch einer emotionalen Bewegung“ erkennen. Bei kritischen Nachfragen wirkte er angespannt. Als Leygraf ihn schließlich ausführlicher zu seiner Lebenssituation habe befragen wollen, habe der Angeklagte die Exploration laut schimpfend abgebrochen.
Dem psychiatrischen Gutachten zufolge ist der Halle-Attentäter von durchschnittlicher Intelligenz und weist bei persönlichkeitsbestimmenden Parametern wie Depressivität, Paranoia und Narzissmus überdurchschnittliche Werte auf. Balliet, der sich in Vernehmungen selbst als unsoziales Wesen ohne Freunde und Freundin beschrieb, wird vom Sachverständigen als eine selbstbezogene Person bezeichnet, die von den eigenen Wertvorstellungen überzeugt ist und sich anderen Menschen überlegen fühlt. Zudem ist er verschlossen und pessimistisch, im zwischenmenschlichen Umgang empfindet er Unsicherheit sowie Misstrauen und Feindseligkeit.
Auch Ernst wird im Gutachten als eher zurückhaltender Einzelgänger charakterisiert, der kaum engere Freunde hat und wenig auf die Gefühle anderer achtet. Nach außen wirke er emotional kühl und wenig empathisch. Innerlich sei er aber verletzlich. Kränkungen, die er erfahren habe, könne er für lange Zeit nicht vergessen. Sein Leben hat Ernst dem Gutachten zufolge „zweispurig“ geführt: Zum einen baute er sich nach seiner ersten Freiheitsstrafe wegen eines Messerangriffs auf einen Ausländer in den 1990er Jahren ein bürgerliches Leben auf, wurde zweifacher Familienvater und ein „geschätzter Arbeitskollege“. Gleichzeitig aber bewegte er sich aktiv in der rechtsradikalen und gewaltbereiten Szene Hessens. Heimlich legte er sich überdies ein großes Waffenlager an, um sich auf einen angeblich bevorstehenden Bürgerkrieg vorzubereiten.
Die Prozesse
Urteile Seit Mitte Juni steht Stephan Ernst, 47, vor Gericht, beim Oberlandesgericht in Frankfurt am Main. Der Familienvater hat gestanden, den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke in der Nacht zum 2. Juni 2019 mit einem Kopfschuss ermordet zu haben. Den Anklagevorwurf, 2016 einen irakischen Flüchtling niedergestochen zu haben, weist er zurück. Das Urteil gegen ihn könnte im Januar fallen. Stephan Balliet, 28, muss sich seit dem 21. Juli vor dem Oberlandesgericht Naumburg verantworten. Aus Platzgründen findet der Prozess in Magdeburg statt. Balliet hatte am 9. Oktober 2019 versucht, in der halleschen Synagoge „so viele Juden wie möglich zu töten“, wie er sagte. Als das Vorhaben scheiterte, überfiel er einen Dönerladen und tötete dort einen jungen Mann. Zuvor hatte er bereits eine Passantin erschossen. Mit einem Urteil gegen den geständigen Balliet wird noch vor Weihnachten gerechnet.
Als Ergebnis seiner Gutachten bescheinigt Leygraf sowohl Balliet als auch Ernst volle Schuldfähigkeit. Es lägen bei beiden keine Hinweise auf eine psychische Erkrankung wie eine manische Psychose oder hirnorganische Schäden vor. Ebenso wenig seien eine „forensisch relevante Minderbegabung“ oder Einflüsse durch Suchtmittel festzustellen. Auch die über einen längeren Zeitraum hinweg laufende Planung und Vorbereitung der Anschläge sowie die Tatbegehung sprechen aus Sicht des Gutachters gegen eine tiefgehende Bewusstseinsstörung der Angeklagten.
Zwar hatte der heute 47-jährige Ernst um das Jahr 2009 herum an Angstattacken gelitten und damals eine Psychotherapie absolviert; zum Zeitpunkt seiner mutmaßlichen Taten habe jedoch keine „krankhafte seelische Störung“ mit Einfluss auf seine Schuldfähigkeit vorgelegen, stellte Leygraf fest. Auch der Umstand, dass Ernst schizoide Persönlichkeitszüge aufweise, bedeute nicht, dass bei ihm eine Persönlichkeitsstörung vorliege.
Schizoid, aber urteilsfähig
Bei Stephan Balliet hingegen diagnostizierte Leygraf eine komplexe Persönlichkeitsstörung mit schizoiden und paranoiden Anteilen sowie Autismusmerkmalen. Diese Störung, die Merkmale einer schweren seelischen Abartigkeit habe, äußere sich beispielsweise in der Unfähigkeit, sich in andere Menschen hineinzufühlen, in seiner gefühlskalten und emotionslosen Art sowie seinem Unvermögen zu einer partnerschaftlichen Lebensgestaltung. Tatsächlich lebte der Halle-Attentäter seit Jahren zurückgezogen im alten Kinderzimmer der Wohnung seiner Mutter. Die einzige Verbindung zur Außenwelt bestand über das Internet, wo er mit anonymen Usern rassistischer, frauenfeindlicher Imageboards wie 8kun oder 4chan chattete (der Freitag 42/2019). Leygraf betonte gleichwohl in seinem Gutachten, die seelische Abartigkeit des Angeklagten habe dessen exekutives Steuerungsvermögen und damit auch seine Schuldfähigkeit nicht beeinträchtigt. So habe Balliet es nicht nur vermocht, das Attentat von Halle komplex vorzubereiten, sondern auch, sein Verhalten bei der Tatausführung den wechselnden äußeren Rahmenbedingungen anzupassen.
Obwohl der Halle-Attentäter von Verschwörungsfantasien überzeugt sei, liege deshalb kein krankhafter Wahn bei ihm vor, stellte Leygraf klar. Auch Ernst habe nicht aus einem Wahn heraus gehandelt. Dessen Mord an Walter Lübcke stehe vielmehr in „direktem Zusammenhang“ mit der fest verwurzelten rechtsextremen Einstellung des Täters. Dieses Verneinen eines Wahns bedeutet, dass sich Balliet und Ernst bei ihren Taten nicht als „Auserwählte“ gesehen haben, die einer vermeintlich höheren Bestimmung folgen. Vielmehr gingen sie davon aus, in ihrem jeweiligen sozio-kulturellen Umfeld – Ernsts rechte Freunde und Balliets Chatpartner im Internet – Gleichgesinnte zu haben, die ihre Überzeugungen teilen und ihre Handlungen befürworten.
Leygrafs Fazits in den Gutachten ähneln sich: Weder bei Ernst noch bei Balliet könne er Hinweise auf eine mögliche Änderung von Einstellungen und Verhaltensdispositionen erkennen. Auch Reue über die begangenen Morde sei nicht zu spüren. Balliet habe in den Gesprächen kein Bedauern über die Tötung der beiden Opfer gezeigt, sie als „Kollateralschaden“ abgetan.
Ernst habe seine Tat in den polizeilichen Vernehmungen zwar als „unverzeihlich“ bezeichnet, dabei aber aus Leygrafs Sicht nur eine „geringe affektive Beteiligung“ gezeigt, weshalb er keine aufrichtige Reue bei ihm erkennen könne. Auch die Tränen, die der Angeklagte im Prozess bei der Konfrontation mit der Familie seines Opfers vergoss, seien wenig authentisch. Vielmehr seien bei Ernst der Hass auf Ausländer, die rechtsradikale Ideologie und der Hang zu schweren Straftaten seit der Jugend „tief eingeschliffen“ und damit Teil seiner Persönlichkeit geworden. Die vom Angeklagten behauptete, angeblich schon 2009 erfolgte Loslösung von der Neonazi-Ideologie sei bestenfalls „oberflächlicher Natur“. Eine grundsätzliche Kehrtwende sei bei ihm aus psychiatrischer Sicht kaum nachvollziehbar.
Bei beiden Angeklagten ist sich Leygraf daher sicher, dass ihr ausgeprägter Hang zur Gewalt sie auch zukünftig schwere Straftaten begehen lassen würde. Für die Gerichte in Magdeburg und Frankfurt ist diese Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen von großer Bedeutung, wenn sie über eine mögliche Sicherungsverwahrung der verurteilten Täter im Anschluss an eine Freiheitsstrafe entscheiden müssen.
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