Die Behüterin

Gentrifizierung Auch in Mexiko-Stadt wird das Wohnen immer teurer. Zwei Künstler kämpfen mit einer Madonna dagegen an
Ausgabe 23/2018

Es gibt Leute in Mexiko, die sagen, Santa Mari la Juaricua habe bereits Wunder vollbracht. Dabei ist sie alles andere als eine gewöhnliche Heilige.

Vor ein paar Jahren hatte die bildende Künstlerin Sandra Valenzuela die hölzerne Heiligenfigur aus dem Schutt einer heruntergekommenen Abrisswohnung gezogen. „Sie war in einem erbärmlichen Zustand: Der Kopf fiel immer ab, sie hatte keine Füße und war leicht angemodert …“, sagt sie. Edmundo Soto, ein Spezialist in Holzrestaurierungen und Freund der Familie, päppelte die Figur wieder auf. Wahrscheinlich handelt es sich um eine apokalyptische Jungfrau, die aus der Zeit Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts stammt, so seine Vermutung.

Sandra Valenzuela engagierte sich damals in Nachbarschaftsinitiativen. Während der Auseinandersetzungen um den Corredor Cultural Chapultepec, eine gigantische, privat finanzierte Fußgängermeile über zwei Stockwerke, die Ende 2015 in einem Volksentscheid abgelehnt wurde, lernte sie Jorge Baca, wie sie bildender Künstler, kennen. Die beiden wurden Freunde.

Santa María Rattenloch

Baca lebt in vierter Generation in Santa María la Ribera, einem historischen Viertel unweit des historischen Zentrums von Mexiko-Stadt, mit vielen Ende des 19. Jahrhunderts erbauten Häusern von architektonischem Wert. „Vor vier Jahren wurde Santa María la Ribera noch Santa María Rattenloch genannt, weil es ein sehr gefährliches Viertel war“, sagt Baca. „Heute ist es ein Modeviertel für Hipster und Künstler.“ Es habe eine „brutale Gentrifizierung“ gegeben. Immobilienfirmen kauften ganze Straßenzüge auf, modernisierten die Häuser oder rissen die alten ab und bauten neue.

Zwar gibt es Gesetze zum Schutz der historischen Bausubstanz, aber die weit verbreitete Korruption sorge dafür, dass diese Gesetze großzügig im Sinne der Investoren ausgelegt würden, sagt Baca. Die Mieten im Viertel stiegen, hippe Modeläden, Lofts und Gourmetrestaurants ersetzten die Tante-Emma-Läden und schmuddeligen Eckkneipen, langjährige Bewohner wurden verdrängt. Vor vier Jahren noch habe er eine jährliche Grundsteuer von 325 Pesos (rund 15 Euro) gezahlt, heute seien es halbjährlich 1.898 Pesos (rund 85 Euro). Gentrifizierung löscht Geschichte und Identität von Nachbarschaften aus, sagt Baca. In Juárez, dem Viertel von Sandra Valenzuela, hatte eine ähnliche Entwicklung bereits einige Jahre vorher eingesetzt.

„Als Künstler sind wir oft die Speerspitze der Gentrifizierung“, nimmt Valenzuela die eigene Verwicklung in den Blick. „Oft sind wir uns dessen nicht bewusst. Aber niemand ist unschuldig. Wir ziehen in zentrumsnahe, historische Viertel mit günstigen Mieten, gründen alternative Läden, schaffen Kulturangebote, und langsam kommt das Viertel in Mode. Das zieht Immobilieninvestoren an, und Verteuerung beginnt.“

„Das ist kein zufälliger Prozess“, wirft Baca ein, „sondern der wird bewusst provoziert.“ Es würden Bedingungen geschaffen, damit Künstler kommen, Galerien gründen, ihre eigene Infrastruktur schaffen und die Viertel aufwerten. Er nennt ein extra geschaffenes Künstlerhotel im Zentrum von Mexiko-Stadt als Beispiel. „Es sind Etappen der Immobilienaufwertung, alles folgt einem ökonomischen Immobilienplan“, sagt er. „Ziel ist es nicht, Wohnungen zu schaffen, sondern Geld zu verdienen.“ Behörden und Immobilienunternehmen steckten dabei oft unter einer Decke. Die Stadtverwaltung stelle die Regeln auf und schaffe so günstige Bedingungen für Investoren. Das laufe überall ähnlich, in New York, Berlin, Mexiko-Stadt. „Der Kampf gegen Gentrifizierung ist eine asymmetrische Auseinandersetzung, das macht ihn so schwierig“, sagt er. Und meint damit, dass Behörden und Immobilieninvestoren zusammenstecken und damit die Kräfte in der Auseinandersetzung mit Nachbarschaftsaktivisten ungleich verteilt sind.

„Wir haben immer vor der Entwicklung gewarnt, aber niemand hat auf uns gehört. Wir wurden für verrückt erklärt“, sagt Baca. Der gemeine Nachbar würde Gentrifizierung mit Fortschritt und Entwicklung verwechseln und habe die negativen Konsequenzen nicht im Blick. „Wir wussten, in diesem Konflikt brauchen wir Hilfe. Eines Tages haben wir dagesessen und herumgealbert: Uns hilft nur noch Beistand von oben“, erzählt Baca mit einem Lachen. „Nur eine Gottheit kann uns jetzt noch helfen.“

Sie erinnerten sich an Valenzuelas hölzerne Heiligenfigur. Sie verpassten der Figur ein weißes Gewand, eine Brille, um Unterlagen in Fällen von Zwangsräumungen zu überprüfen, einen Sombrero, wie ihn die Aktivisten während ihrer Demonstrationen tragen, und einen Hund, den sie „Banqueta“ (Parkbank) getauft haben. Es solle eine Anspielung auf ein Symbol für den öffentlichen Raum sein, der immer mehr mit Tischen und Stühlen kommerzieller Geschäfte zugestellt wird, an denen konsumiert werden muss, wie Valenzuela erklärt.

Und so wurde aus der restaurierten Heiligenfigur die Anti-Hipster-Heilige Santa Mari la Juaricua, ein ironisches Kunstprojekt, das auf all die mit der Gentrifizierung verbundenen Probleme aufmerksam machen sollte. Der Name Santa Mari la Juaricua setzt sich zusammen aus den Vierteln Santa María la Ribera und Juárez, deren Bewohner als juaricuos bezeichnet werden. „Es ist keine Heilige gegen die Gentrifizierung, sondern eine Heilige für das Recht auf Wohnraum und auf vielfältige Viertel, eine Heilige gegen Klassismus und Rassismus“, sagt Valenzuela.

Zunächst war Santa Mari la Juaricua als ein Objekt unter vielen in einer temporären Galerie ausgestellt. Später erhielt sie ihren eigenen kleinen Altar vor dem Atelier von Sandra Valenzuela im Viertel Juárez. Die Inschrift „Kunstvitrine“ verdeutlichte den künstlerischen Charakter des Altars.

Heiligenlegenden entstehen

Doch viele Leute näherten sich der Heiligen ausgehend von vertrauten kulturellen Praktiken. Sie nahmen die Figur vor allem als religiöse Ikone wahr. Passanten bekreuzigten sich im Vorbeigehen. Vor allem aber kam man ins Gespräch. „Durch die Madonna haben wir mit wildfremden Leuten über steigende Mieten und Grundsteuer geredet, über Zwangsräumungen. Und die, die früher applaudiert haben, wenn ein altes Haus abgerissen und durch ein modernes Gebäude ersetzt wurde, entwickelten ein Bewusstsein dafür, dass sie selbst bedroht sind“, erklärt Baca eindringlich.

Später gab es sogar zwei Prozessionen; an der ersten nahmen mehr als 800 Menschen teil. Selbst ein Gebet wurde verfasst. Es beginnt mit „Patrona y madre, santa y niña, amiga y cómplice, protectora contra la gentrificación. Sálvame de las malas prácticas, líbrame del desplazamiento, del desalojo, del incremento abusivo de la renta, del alza desmedida del predial, del voraz casero y del mal inmobiliario: sálvanos de la gentrificación“ („Schutzheilige und Mutter, Heilige und Tochter, Freundin und Gefährtin, Beschützerin vor Gentrifizierung. Bewahre mich vor schlechten Praktiken, befreie mich von Verdrängung und Zwangsräumung, von steigenden Mieten und Zunahme der Grundsteuer, schütze mich vor habgierigen Eigentümern und Immobilienhaien: Rette uns vor der Gentrifizierung“). Auch eine Cumbia wurde komponiert.

„Vom Glauben aus kannst du Empathie schaffen“, so definiert die Künstlerin Valenzuela die Beziehung zwischen Religiosität und Kunst. „Es funktioniert, denn als ,gute Mexikaner‘ begeben wir uns bereitwillig in die Hände Gottes“, so Baca. Aberglauben, Gott anzurufen, magisches, religiöses Denken, um Probleme zu lösen – all das sei sehr mexikanisch, betont Baca. „Deshalb funktioniert es und du erreichst Leute, die du sonst nie erreichen würdest.“

Es habe auch immer wieder Versuche gegeben, Santa Mari la Juaricua für politische Zwecke zu vereinnahmen. „Wir sollten erzählen, dass uns die Heilige erschienen ist, wir nicht wissen, woher sie kommt … Dagegen haben wir uns gewehrt“, sagt Baca. Die beiden Künstler hätten immer wieder deutlich gemacht, dass sie niemanden hinters Licht führen wollen. Denn manchmal sei ihm der religiöse Aspekt schon unheimlich geworden, sagt Baca, der selbst ein praktizierender Katholik ist. „Wir haben Santa Mari la Juaricua mit allem Respekt geschaffen. Es ist ein zeitgenössisches Kunstprojekt, eine libertäre, anarchische, laizistische Heilige.“

Aber kann sie auch die Gentrifizierung stoppen?

„Das Seltsame und Magische ist: Es hat funktioniert. Vor drei Jahren waren wir noch allein – mittlerweile gibt es ein gewaltiges Interesse.“ Für Baca ein Wunder. „Mit der Heiligen haben wir Probleme sichtbar gemacht, die Behörden und Investoren lieber im Dunkeln belassen, und wir haben Gemeinschaft geschaffen. Wunder erfüllt, würde ich sagen.“

Auch andere wundersame Erscheinungen werden Santa Mari la Juaricua mittlerweile zugeschrieben. Einmal, als er die Pflanzen des Altars goss, sei er von Passanten gelobt worden, dass er sich um den Altar der Schutzheiligen kümmere, denn sie vollbringe Wunder, sagt Baca. „Ich habe die Leute gefragt, was für Wunder sie vollbracht habe, und eine Frau erzählte mir, dass sie vor einigen Tagen aus ihrer Wohnung hatte zwangsgeräumt werden sollen. Auf einmal war eine weiß gekleidete Frau mit Brille und Hut erschienen, identisch mit dem der Heiligen.“ Es stellte sich heraus, dass es eine Anwältin war, die sich für die Situation der Frau interessierte und die Räumung stoppte, da diese illegal war.

Sie verlangte keinerlei Bezahlung und verschwand genauso plötzlich, wie sie aufgetaucht war.

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