Wegen der Musik

Porträt Esther Bejarano hat Auschwitz überlebt. Gegen den Faschismus kämpft die 92-jährige Sängerin auch mit einer ungewöhnlichen Combo
Ausgabe 06/2017

Wenn sie heute, hier auf Kuba, erzählen, wie sie sich vor Jahren kennengelernt haben, dann müssen die 92-jährige Esther Bejarano und der nicht einmal halb so alte Kutlu Yurtseven lachen. „‚Hallo, Kutlu von der Microphone Mafia hier‘, sagte die Stimme am Telefon“, erzählt Bejarano. „Die Mafia?! Da war ich entsetzt, dachte: Was will denn die Mafia von mir?“

Der Kölner Musiker Yurtseven erklärte der Sängerin und Auschwitz-Überlebenden Bejarano, dass die Microphone Mafia eine antifaschistische Hip-Hop-Band sei. „Die einzige Mafia, die die Welt braucht“, wie es in einer Selbstbeschreibung der Gruppe heißt. Von ein paar Teenagern 1989 in Köln-Flittard gegründet, wurde die Gruppe bald europaweit mit ihrem Rap gegen Rassismus und rechte Gewalt bekannt. Yurtseven schlug Bejarano eine Zusammenarbeit vor.

„Ich wusste, dass Rap modern ist und die Jugend Rap liebt“, sagt Esther Bejarano. „Ich habe also zugesagt, zusammen Konzerte zu geben, damit wir unsere Idee an die Jugend weitertragen: zusammen gegen den Faschismus zu kämpfen.“ Sie sei Gefangene in zwei Konzentrationslagern gewesen, und das habe alles für sie verändert, hat Esther Bejarano einmal gesagt. „Und da ich mein Leben retten konnte, entschied ich mich, es einzusetzen, um alles nur Mögliche gegen die Faschisten zu tun.“

Als „älteste Rapperin der Welt“, wie sie manchmal bezeichnet wird, versteht sich Esther Bejarano allerdings nicht. „Ich bin keine Rapperin, ich singe, das ist ein großer Unterschied!“ Sie hat eine Ausbildung zur Sopranistin absolviert und stets klassische Musik gemacht, auch in Opern gesungen, darauf legt sie Wert. In den vergangenen acht Jahren sind die Microphone Mafia und Esther Bejarano bei unzähligen politischen Veranstaltungen und Festivals gemeinsam aufgetreten. Im Lauf der Zeit wurde aus der musikalisch-politischen Kollaboration eine Freundschaft, die sie nun gemeinsam bis nach Kuba geführt hat: Auf Einladung des staatlichen kubanischen Musikinstituts waren sie Anfang des Jahres für zehn Tage auf der Karibikinsel unterwegs, mit dem Bassisten Joram Bejarano, Esthers Sohn, und mit Kutlus Bandkollegen, dem Deutschitaliener Rosario Pennino. „Ich wollte schon immer mal nach Kuba“, sagt Bejarano, die Menschen kennenlernen und „mich überzeugen, dass es immer noch Sozialismus gibt“. In Deutschland tritt Bejarano in diesem Jahr als Kandidatin der Deutschen Kommunistischen Partei zu den Bundestagswahlen an.

Das Unding

Eigentlich hatte es auf Konzerttournee in die USA gehen sollen. Als die Planungen konkreter wurden, habe man überlegt, das mit Kuba zu verbinden, erzählt Yurtseven. Am Ende ist dann nur Kuba übrig geblieben, aus den USA wurde nichts. Weder er noch Esther Bejarano sehen so aus, als wären sie traurig darüber. Neben Konzerten in Havanna, Santa Clara und Camagüey gab es unter anderem ein Treffen mit kubanischen Künstlern und mit der kleinen jüdischen Gemeinde in Kubas Hauptstadt.

Auf der Bühne des Palacio de la Rumba in Havannas Stadtteil Centro Habana strahlt die nur 1,50 Meter große Bejarano eine beeindruckende Würde und Grazie aus. Dort, wo sonst Paare zu Salsa-Rhythmen herumwirbeln, gibt es an diesem Abend eine Mischung aus verschiedensten musikalischen Einflüssen: italienische Arbeiterlieder, jüdische Volkslieder, griechische Widerstandslieder, türkische Gedichte. Yurtseven und Pennino rappen auf die Beats, Esther Bejarano singt mit ihrer kraftvollen Stimme; dazwischen liest sie aus ihrem Buch Erinnerungen.

Selbst im transkulturellen Kuba sind die vier eine eher ungewöhnliche Combo. Doch daran liegt es nicht, dass das Publikum eher verhalten reagiert. Die gelesenen Textstellen müssen immer erst übersetzt werden, das hemmt den Fluss; auch die Liedtexte erschließen sich nur Fremdsprachenkundigen – und davon gibt es auf Kuba nicht allzu viele. So bleibt die antifaschistische Botschaft etwas auf der Strecke.

„Ich bin eine glühende Antifaschistin und werde mein ganzes Leben dafür kämpfen, dass es nie wieder Faschismus gibt“, sagt Esther Bejarano in Havanna. „Die Jugend muss erfahren, was damals geschehen ist.“

Als Kind jüdischer Eltern 1924 in Saarlouis geboren, war Esther Bejarano vom Jahr 1941 an im Zwangsarbeitslager Neuendorf bei Fürstenwalde an der Spree interniert, musste dort in einem Blumengeschäft arbeiten. Am 20. April 1943 wurde sie mit allen anderen Insassen des Arbeitslagers und weiteren Menschen in Viehwaggons erst nach Berlin und dann ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert.

Dort überlebt sie nur wegen der Musik, wie sie sagt. Sie sei zu Hause sehr musikalisch erzogen worden, habe unter anderem Klavier gespielt. Als in Auschwitz ein „Mädchenorchester“ gegründet werden sollte, suchte eine polnische Musiklehrerin und Mitgefangene nach Frauen, die ein Musikinstrument spielen konnten. „Ich meldete mich, aber es gab kein Klavier in Auschwitz, sondern nur ein Akkordeon“, sagt Bejarano. „Die Dirigentin fragte mich, ob ich Akkordeon spielen könne. Ich hatte nie eins in der Hand gehabt. Aber ich log und habe Ja gesagt.“ Sie sollte einen deutschen Schlager spielen, den sie glücklicherweise kannte. Also übte sie in einer Ecke mit dem Akkordeon. „Rechts war es nicht schwer, da gab es Tasten, ähnlich wie beim Klavier; aber links, mit den Knöpfen …“

Das Einenkeln

Sie musste nach den richtigen Akkorden suchen, aber sie schaffte es und wurde in das Mädchenorchester aufgenommen. „Fortan musste ich keine schwere körperliche Arbeit mehr leisten und überlebte.“ Zuvor hatte sie schwere Steine auf einem Feld von einer Seite auf die andere schleppen müssen. Am nächsten Tag mussten dieselben Steine zurückgeschleppt werden.

Mit dem Mädchenorchester spielten sie am Tor, wenn die Arbeitskolonnen das Lager verließen und wenn sie abends wieder zurückkamen. „Später mussten wir spielen, wenn neue Transporte aus ganz Europa ankamen, die direkt ins Gas fuhren. Wir wussten, wohin die Züge fuhren. Mit Tränen in den Augen spielten wir. Die Menschen in den Zügen winkten uns zu. Sicher dachten sie, wo die Musik spielt, kann es ja nicht so schlimm sein. Hinter uns standen die SS-Männer mit ihren Gewehren“, so beschrieb Bejarano vor einigen Jahren in einer Festrede die makabren Auftritte des Orchesters.

Später wurde sie ins Konzentrationslager Ravensbrück verlegt. Während eines Todesmarschs Ende April 1945 gelang ihr die Flucht. Ihre Eltern und ihre Schwester dagegen wurden von den Nazis ermordet. Eine Erfahrung, die Bejarano heute gegen die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik einstehen lässt. „Diese Politik ist eine Katastrophe, Grenzen werden geschlossen – ein Unding“, sagt sie. „Ich habe selbst erlebt, wie es ist, wenn man Bedrohte nicht aufnimmt. Meine Schwester Ruth wollte damals in die Schweiz flüchten, wurde aber nach Deutschland zurückgeschickt, und damit in den Tod“ (siehe Infokasten).

Der Mord an ihrer Schwester

Am 11. Juni 2016 waren Esther Bejarano und die Microphone Mafia für ein Konzert ins hessische Arolsen gekommen. Dort befindet sich auch der International Tracing Service, das Archiv für NS-Verfolgung und die befreiten Überlebenden. Der Leiter bat Bejarano um ein Gespräch. „Was ich dort über das Schicksal meiner Schwester Ruth erfuhr, hat in mir einen Schock verursacht, der mir bis heute keine Ruhe lässt“, schrieb sie danach an das Auschwitz Komitee.

Bejarano war bis dato davon ausgegangen, dass ihre vier Jahre ältere Schwester Ruth Loewy und deren Mann bei einem Fluchtversuch von der Schweizer Polizei nach Deutschland zurückgeschickt und von deutschen Grenzern erschossen worden waren. Tatsächlich aber hatten die Deutschen Ruth Loewy wohl an der Grenze verhaftet. Sie wurde am 6. November 1942 nach Auschwitz deportiert und dort am 1. Dezember ermordet. Über das Schicksal von Loewys Mann, mit dem sie zuvor in Holland gelebt und nach der Besetzung durch die Deutschen gen Schweiz zu fliehen versucht hatte, ist bis heute nichts bekannt. Esther Bejarano selbst war wenige Monate später, im April 1943, vom Lager Neuendorf nach Auschwitz deportiert worden.

„Als ich vor einigen Jahren in der Gedenkstätte Auschwitz im Archiv nach meinen Verwandten suchte, war ich davon überzeugt, dass Ruth wenigstens die Hölle von Auschwitz nicht erleben musste“, schrieb Bejarano.Ihr Brief und historische Dokumente finden sich in einer gerade erschienenen, aktualisierten Neuauflage von Bejaranos Erinnerungen (Laika 2016, 216 Seiten, 17,50 €), der eine DVD mit Interview und Ausschnitt eines Microphone-Mafia-Konzerts beiliegt. Sebastian Puschner

Nach Kriegsende ging Esther Bejarano zunächst nach Israel, wo sie insgesamt 15 Jahre lebte. In Tel Aviv studierte sie klassischen Gesang, in einem Chor lernte sie ihren Mann kennen. Sie heirateten und bekamen zwei Kinder. „Unsere Idee war es, das Land gemeinsam mit den Palästinensern aufzubauen“, sagt sie. „Aber es gab eine andere, schlimme Politik.“ Sie ertrage es nicht, dass ein anderes Volk diskriminiert werde. „Mein Mann musste in den Krieg ziehen. Eines Tages kehrte er zurück und sagte: ,Ich gehe nie wieder in diesen Krieg, denn einen Angriffskrieg mache ich nicht mit.‘“ Da ihr Mann wegen Kriegsdienstverweigerung vor der Wahl zwischen Gefängnis oder Flucht gestanden habe, sei ihr keine andere Möglichkeit geblieben, als aus Israel wegzugehen.

Also kehrte Esther Bejarano 1960 mit Mann und Kindern nach Deutschland zurück, sie gingen nach Hamburg. „Es ist mir schwergefallen“, sagt sie. „Denn Deutschland war und ist das Land der Täter. Erst im Laufe der Zeit habe ich mich daran gewöhnt, weil ich viele Menschen kennengelernt habe, die Widerstandskämpfer waren.“ Seit Ende der 1970er Jahre tritt Esther Bejarano als Zeitzeugin vor Schulklassen auf. Dafür erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, 2012 zum Beispiel das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. In Buxtehude wollte einmal der Direktor eines Gymnasiums verhindern, dass sie an seiner Schule ihre Erlebnisse im Konzentrationslager schilderte. Der Grund: 1986 gehörte sie zu den Mitbegründern des Auschwitzkomitees, ist seitdem Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) und heute deren Ehrenvorsitzende. Die VVN-BdA aber werde im Verfassungsschutzbericht als verfassungsfeindlich und gewaltbereit eingestuft, argumentierte der Buxtehuder Schuldirektor. Am Ende setzten sich die Schüler und Esther Bejarano durch. „Heute kommen Schüler zu mir und sagen: Wenn Sie eines Tages nicht mehr leben, werden wir Ihre Geschichte weitererzählen.“

Gemeinsam mit Tochter Edna und Sohn Joram gründete Esther Bejarano Anfang der 1980er Jahre die Gruppe Coincidence, mit jüdischen und antifaschistischen Liedern, vor acht Jahren startete die Zusammenarbeit mit der Microphone Mafia. Daraus ist mit der Zeit eine Familie geworden. Kutlu und Rossi habe sie „eingeenkelt“, erklärt Esther Bejarano und lächelt. Das zeigt sich auf der Bühne. Vor allem Yurtseven nimmt Esther Bejarano immer wieder in die Arme, drückt ihr einen Kuss auf die Stirn. Dieser Zusammenhalt in der Band und das Publikum geben ihr Kraft, „deshalb können wir unsere Ideen weitertragen“.

Andreas Knobloch arbeitet als freier Journalist in Lateinamerika. Er lebt in Havanna

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