Träum weiter, Selenskyj

Russland-Ukraine-Krieg Wer glaubt, eine friedliche Lösung in Osteuropa ließe sich per Abnutzungsschlacht herbeikämpfen, bewegt sich fern der Realität - und wiegt die Menschen in Illusionen

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Was wäre, sollte Medwedews Atombomben-Drohung in einen echten Fall down münden, schlimmer: Eine radioaktiv verseuchte Ukraine oder die Donezk-Region an Russland? Die Frage ist übertrieben zugespitzt? Mag sein. Aber es gibt auch unterhalb dieser Zuspitzung derzeit, was den Krieg Russland-Ukraine, Ukraine-Russland, Putin gegen Selenskyj und umgekehrt betrifft, allen Grund, die Lage zugespitzt zu schildern, wie sie ist. Denn nichts deutet darauf hin, dass der Präsident in Kiew noch alle Tassen im Schrank hat. Sein Größenwahn wird dem seines Widersachers im Kreml immer ähnlicher. Und der Widerstand dagegen immer deutlicher.

Zuletzt wollte das ukrainische Parlament ein Gesetz für eine erleichterte Mobilmachung nicht mal erörtern. Einiges verstieße gegen die Menschenrechte, hieß es aus dem Selenskyj-Lager, Anderes sei nicht optimal formuliert. Dagegen, so verlautete in den Medien, laufe die russische Rotation gut. Auch wenn die Putin-Armee Schwächen zeige. Das ist nur ein, zugegeben kleiner, Ausriss der Kriegsrealitäten. Andere Spielfelder geben freilich ebenfalls nicht andeutungsweise her, dass die Ukraine das russische Militär samt aufgerüsteter Durchhalteparolen absehbar in die Knie zwingen könnte. Selenskyjs Traum droht alsbald zum Trauma zu werden

Als hätte Selenskyj in seinem Gefechtsstand jede Tuchfühlung zur Wirklichkeit verloren, schwankt sein Parolenarsenal zwischen Augenwischerei, Siegesgewissheit und dem Krieg als Inkarnation der Verteidigung Europas. Sein Blick schweift nach Westen und über den Atlantik, seine Rufe nach immer mehr Waffen werden lauter, verhallen aber häufiger. Er etikettiert seinen heldenhaften Kampf in immer leuchtenderen Farben, aber schaut nicht auf den Preis, den das Ganze sein Land und die Menschen darin kostet. Es ist ein Kampf, der weder politisch noch militärisch zu gewinnen ist. Ihm läuft die Zeit davon, und mit ihr die Unterstützung, auch zuhause.

Wer im mit der Ukraine befreundeten Ausland glaubt eigentlich (noch), dass das östliche Kräftemessen irgendwie als Abnutzungskrieg zu gewinnen ist? Die Politiker, die nichtmal Krisen im eigenen Land lösen können? Das Wünschbare ist nicht immer das Machbare. So sehr abgedroschen der Spruch auch klingt, es führt kaum ein Weg an dieser häufigen Wahrheit vorbei. Wünschenswert wäre es, wenn morgen Putin kapitulieren würde. Aber das wird er nicht. Ohne einen gewaltigen, vielleicht gar atomaren Vernichtungsschlag ist da nichts zu holen. Wer also glaubt diesen ungeheuren Blödsinn, den Selenskyj da unaufhörlich vom möglichen Sieg schwafelt.

Man sollte meinen, dass es gut ist, wenn Kriegsherren sich an der Front bewegen. Damit sie mitbekommen, wie es um ihre Soldatinnen und Soldaten nebst Material und Moral bestellt ist. In diesem Fall, also im Fall Selenskyj, wäre es eventuell ganz gut, den Mann mal ein paar Wochen aus der Schuss- und Trommellinie zu nehmen. Ihm nahezulegen, den Tunnel zu verlassen, in dem er sich zunehmend, bei schwindendem Überblick, einbunkert. Und aus gesunder Distanz einen Eindruck davon zu bekommen, wie nahe er wirklich seinem Traum ist. Selenskyj wachzuschütteln statt ihm stets aufs Neue militärischer Hilfe zu versichern. Nur weil man keine Lust auf Knatsch hat.

Der Krieg und die Energiekrise haben geholfen, zu erkennen, was man sich da mit der Russland-Abhängigkeit ans Bein gebunden hatte. Drushba, Freundschaft, wenigstens Respekt, das war eine komplette Illusion. Jetzt dem nächsten Hirngespinst aufzusitzen, dass man nämlich Putin mit Sanktionen und Säbelrasseln das Fürchten lehren könnte, ist eine ähnlich illusorische Ersatzhaltung. Könnten wir, bitte schön, mal irgendwie die Reste belastbaren Verstandes zusammenkehren und zu etwas kommen, was zumindest ein kleines Bisschen überzeugend wirkt? Das Kind ist vor langer Zeit in den Brunnen gefallen, da lässt sich kein Wasser mehr schöpfen!

Das ist wie mit der Klimakrise. Je länger wir uns der Realität verweigern, desto drastischer werden die Mittel sein müssen, mit denen wir dem Irrsinn vielleicht gerade noch entkommen. Der Zerstörung der Umwelt und des Lebens darin. Und je länger wir den Krieg in Osteuropabefeuern und uns – sicherlich betrüblichen – Zugeständnissen verweigern, desto schlimmer werden die Folgen; und desto dümmer ist es zu glauben, dass schon irgendwie alles hinhauen wird mit einem Frieden. Es gibt ihn nicht ohne Zugeständnisse. Könnte das mal jemand – Scholz, Biden, wer auch immer – diesem Che Guevara in der Ukraine klipp und klar sagen?

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Geschrieben von

Andreas Mijic

think-tank aus hamburg & bale (Istrien)

Andreas Mijic