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Corona Es geht nicht nur um Geld oder die Haftung für Schulden. Die Krise Europas muss auf andere Art überwunden werden
Ausgabe 16/2020
Das ewige Neben- statt Miteinander der EU
Das ewige Neben- statt Miteinander der EU

Foto: Kenzo Tribouillard/AFP/Getty Images

Als Anfang der 1950er Jahre die Utopie der europäischen Einigung Wirklichkeit zu werden begann, waren die Gründerväter sich bewusst, dass ein schwieriger Weg vor ihnen lag. Und dass dieser Einigungsprozess die Summe der Kompromisse sein würde, die die Gemeinschaft immer wieder von Neuem zur Lösung von Krisen würde finden müssen.

Tatsächlich ging es darum, eine Union von Völkern aufzubauen, die jahrhundertelang durch ihre unterschiedliche Geschichte, ihre widerstrebenden Interessen, ihre Sprache und Kultur getrennt gewesen waren. Die EU sollte ein neuer Demos werden, der selbst aus verschiedenen Demoi bestand, und dessen konstituierende Teile über je eigene Wege in die Moderne verfügen sollten, über eigene Wirtschafts- und Wohlfahrtssysteme, dem Erbe ihrer jeweils eigenen nationalen Geschichte, politischen Kämpfe und sozialen Kompromisse.

Auch in der Vergangenheit stand das Projekt einer politischen und wirtschaftlichen Einheit immer wieder am Abgrund – ähnlich wie heute. Mit einem Unterschied: Heute muss Europa mit seinen Widersprüchen und Eigentümlichkeiten allein zurechtkommen, wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bereits 2017 in einer historischen Rede ganz zu Recht betont hat. Kein „wohlwollender Hegemon“, wie es die USA jahrzehntelang waren, und auch keine sowjetische Bedrohung zwingen die Europäer mehr zur Überwindung ihrer Egoismen. Europa ist zu einem Zeitpunkt auf sich allein gestellt, an dem die Globalisierung, die neuen geopolitischen Kräfteverhältnisse und die Konfrontation der großen Mächte den europäischen Staaten einen entscheidenden weiteren Schritt abverlangen: jenen zur Wiedererlangung ihrer Bestimmung als Teil einer gemeinsamen europäischen Souveränität.

Angesichts dieser Herausforderung zögern sowohl die Völker Europas als auch ihre politischen Vertreter; populistische Bewegungen versuchen, davon zu profitieren. Sie stellen einen düsteren Kulturpessimismus zur Schau, der sein Heil in der Dystopie eines autarken Egoismus sucht. Uralte Vorurteile und Ressentiments kehren wieder, die keinen Raum für jenes Gefühl lassen, das eine wesentliche Voraussetzung jeder Gemeinschaft ist: Einfühlungsvermögen. Empathie. So hat eine rasante Abfolge von Krisen die Beziehungen zwischen den Europäern brüchig werden lassen. Schlimmer noch: Es hat sich eine gefährliche, destruktive Spirale aus gegenseitigen Anschuldigungen und Verdächtigungen entwickelt. In den vergangenen Jahren schienen die Europäer unfähig, sich miteinander zu verständigen: etwa über Auswege aus den Wirtschafts- und Finanzkrisen oder über die Migration. Heute gilt dasselbe für den Umgang mit der sozialen und politischen Katastrophe der Corona-Pandemie.

In einem Vortrag, den Stefan Zweig 1932 unter dem Titel Die moralische Entgiftung Europas gehalten hat, beschrieb er die Symptome der europäischen Krise in Begriffen, die sehr gegenwärtig klingen: „In allen oder fast allen Nationen zeigen sich dieselben Erscheinungen starker und rascher Reizbarkeit bei großer moralischer Ermüdung; ein Mangel an Optimismus, ein aus jedem Anlass sich entzündendes Misstrauen, jene typische Nervosität und Unfreudigkeit, die aus dem Gefühl der allgemeinen Unsicherheit entsteht.“ Als Gegengift schlug er vor, „vor der politischen, militärischen, finanziellen Einheit Europas die kulturelle zu verwirklichen“. Um zu verhindern, dass die Pandemie das nach wie vor innovativste politische Experiment der Menschheitsgeschichte hinwegfegt, müssen wir heute darüber nachdenken, wie wir nach der Europäischen Union nun „die Europäer“ erschaffen können.

Dazu bedarf es keiner neuen Verträge. Die Wortlosigkeit der europäischen Politiker und die Ausbreitung wechselseitiger Ressentiments zeigen deutlich, dass die Aufbauphase Europas, die auf eine gemeinsame Währung, den Binnenmarkt und den freien Warenverkehr gesetzt hatte, zu Ende ist. Es heißt, Jean Monnet, der Wegbereiter der europäischen Einigung, habe im Rückblick gesagt: „Wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte, würde ich mit der Kultur beginnen.“ Damit hatte er zweifelsohne recht. Denn nur im interkulturellen Dialog wird das künftige Schicksal Europas entschieden. Noch vor ihren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Aspekten ist die europäische Frage zuallererst eine kulturelle Frage.

Die wahre Herausforderung der EU ist nicht nur die Beibehaltung des Stabilitätspakts oder die – falsche – Alternative zwischen der Beschränkung der Staatsausgaben und der Förderung von Wachstum. Sondern die Überwindung all jener Hindernisse, die eine gegenseitige Verständigung verhindern, welche auf dem Zusammenwirken der Besonderheiten und dem immensen Potenzial der europäischen Kultur beruhte. Deshalb richte ich meinen Appell an die europäischen Intellektuellen: Erneuert euer Engagement im Namen Europas! Denn die europäische Demokratie hat schon einmal auf tragische Weise für die „trahison des clercs“, den Verrat der Intellektuellen, bezahlt.

Angelo Bolaffi, Politologe, Philosoph und Autor (Deutsches Herz. Das Modell Deutschland und die europäische Krise), war bis 2011 Direktor des Italienischen Kulturinstituts in Berlin

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Übersetzung aus dem Italienischen: Pepe Egger

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