Demokratie Ginge es nach dem Plan des „Bürgerrats Klima“, würden wir das 1,5-Grad-Ziel locker schaffen. Sind einfache Bürger:innen die besseren Politiker:innen?
Im Jahr 2015 stimmte das katholisch-konservativ geprägte Irland in einem Referendum für die Zulassung gleichgeschlechtlicher Ehen und nahm damit weltweit eine Vorreiterrolle ein. Drei Jahre später votierte die irische Bevölkerung in einem weiteren Referendum zu über 66 Prozent dafür, das besonders strenge Abtreibungsgesetz zu reformieren und einen Abbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft zu legalisieren – auch das war eine Sensation (der Freitag 22/2018).
In beiden Fällen spielten Bürgerräte eine wesentliche Rolle. Besonders der Meinungsbildungsprozess zur Lockerung des Abtreibungsverbots gilt als mustergültig. Um das jahrzehntealte Streitthema zu umgehen, hatte die Regierung beschlossen, die Diskussion dar&
die Diskussion darüber einem Gremium von 99 per Los ausgewählten Personen zu überlassen. Tatsächlich war der Bürgerrat in der Lage, die Debatte zu versachlichen und schließlich eine überraschend progressive Entscheidung zu treffen. Mehr noch: Er trug erheblich dazu bei, dass die Bevölkerung einen ähnlichen Prozess vollzog und seinem Votum folgte.Außerhalb des MachtgefügesSind einfache Bürger:innen also die besseren Politiker:innen? Sollte nicht für jedes brisante oder zukunftsweisende Thema ein Bürgerrat eingerichtet werden? Eines kann man mit Sicherheit sagen: Menschen, die sich gegenseitig respektieren, nicht von Wählerschaften oder einem institutionellen Machtgefüge abhängig sind und sich eingehend mit der Thematik befassen, treffen in der Regel gemeinsam sehr vernünftige Entscheidungen.Ob sich ihre Mühe lohnt, hängt entscheidend davon ab, wie viel Einfluss sie letztendlich auf die Politik haben. In Frankreich etwa lief es lange nicht so vorbildlich ab wie in Irland. Als Reaktion auf die Proteste der Gelbwesten hatte Präsident Emmanuel Macron einen Bürgerrat einberufen, der eine ganze Reihe weitreichender Empfehlungen zum Klimaschutz erarbeitete. Nur einige davon sind auf dem Weg, überhaupt umgesetzt zu werden.Trotz dieses Dilemmas beschloss der Verein BürgerBegehren Klimaschutz zusammen mit einer Trägerschaft zahlreicher Organisationen, noch vor der Bundestagswahl im September einen „Bürgerrat Klima“ ins Leben zu rufen, um für die Politik transparent zu machen, welche Klimaschutzmaßnahmen sich eine informierte Bevölkerung, vertreten durch ein „Mini-Deutschland“, wünschen würde. Zwei mit der Durchführung beauftragte erfahrene und unabhängige Institute wählten die Gruppe von 160 Männern und Frauen per Zufall aus und stellte zugleich sicher, dass alle Altersgruppen ab 16 Jahren, alle Bundesländer, Ortsgrößen, Bildungsstände und Menschen mit Migrationserfahrung entsprechend der Gesamtbevölkerung vertreten waren. Ein breit gefächertes wissenschaftliches Kuratorium bestimmte die Expert:innen, die den Prozess engmaschig begleiteten, während der Beirat auf die inhaltliche Ausgewogenheit achtete.Wie kann das Pariser Klimaabkommen in Deutschland eingehalten werden? Ausgehend von dieser Fragestellung entstand so in zwölf Sitzungen per Zoom, 50 Stunden und zwei Monaten ein durchaus erstaunliches Bürgergutachten mit 77 Handlungsempfehlungen für die Bereiche Energie, Mobilität, Ernährung, Gebäude und Wärme. Es bestätigt, was vorher schon in Umfragen zu erkennen war: Die Bevölkerung ist weiter als die Politik und zu Klimaschutz viel mehr bereit, als ihr oft angedichtet wird.Frauke Schoon aus München, Teilnehmerin des Bürgerrats, ist selbst überrascht von der Ernsthaftigkeit, mit der sich alle – ehrenamtlich – mit dem komplexen Thema auseinandersetzten. So hitzig und anstrengend manche Diskussionen auch gewesen seien – der gegenseitige Respekt sei niemals verloren gegangen, und dank der hervorragenden Moderation hätten alle den gleichen Raum dafür bekommen, sich einzubringen. Der 29-Jährigen gefiel auch, dass mit etwas Positivem begonnen wurde, einem gemeinsam entwickelten Bild von der erwünschten Zukunft Deutschlands im Jahr 2035. Bezahlbarer Wohnraum, attraktiver öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV), faire Lebensmittelpreise und 100 Prozent erneuerbare Energien gehörten genauso dazu wie eine sozial-ökologische Wirtschaft, ein starkes Gemeinwesen, begleitet von einem kulturellen Wandel, bei dem die Menschen lernen, genügsamer, solidarischer und zufriedener mit weniger Arbeit zu leben.Aus der Vision entstanden zehn übergeordnete, mit großer Mehrheit verabschiedete Leitsätze. Sie enthalten Forderungen wie die, Klimaschutz als Menschenrecht im Grundgesetz zu verankern, dem 1,5-Grad-Ziel oberste Priorität einzuräumen, wirtschaftliche Interessen und Einzelinteressen dem Schutz des Planeten unterzuordnen sowie die Klimawende sozial und global gerecht zu gestalten.Lieber Verbot als AnreizIm Spannungsfeld zwischen Anreizen und Verboten gewann letzteres Mittel zunehmend an Gewicht. „Lust auf Veränderung zu machen, steht nicht im Widerspruch zu klaren Regeln“, erklärt Schoon. „Wir haben zunehmend erkannt, dass Verbote manchmal notwendig sind, um eine positive Entwicklung zu erreichen – oder um zu verhindern, dass wir in Zukunft auf noch viel, viel mehr verzichten müssen.“Und so finden sich im Bürgergutachten klare Regeln für alle Bereiche, Ebenen und Akteure. Sie reichen von einem generellen Tempolimit, dem geregelten Auslaufen von Verbrennermotoren, Öl- und Gasheizungen, einem neuen Landwirtschaftsgesetz, der Eindämmung von Überproduktion und Verschwendung im Ernährungsbereich, der Pflicht zu Solardächern und zur Langlebigkeit von Elektrogeräten bis hin zu verpflichtenden Rahmenbedingungen für die Beschleunigung der dezentralen Energiewende und dem massiven Ausbau von ÖPNV und Radwegen. All dies soll Vorrang vor den Kosten haben.Die Lenkung über das Finanzielle spielt dennoch eine große Rolle, verbunden mit sozialem Ausgleich und Preisen, die die wahren Klimakosten abbilden. Beispielsweise soll der CO₂-Preis mit einer Klimadividende für Bürger:innen einhergehen.Was ebenfalls auffällt, sind die zahlreichen Empfehlungen zur bürgerlichen Mitbestimmung und zur Aufklärung. „Ich war ja schon für das Klimathema sensibiliert, aber erst durch die ganzen Vorträge ist mir klar geworden, wie viele Wissenslücken ich hatte“, gesteht Schoon, die nach dem Zufallsprinzip der Arbeitsgruppe Ernährung zugeordnet wurde. Nicht wenige Teilnehmende erschütterte, wie stark Lobbyismus, Werbung und Fehlinformationen das eigene Verhalten und die Politik beeinflussen. Das führte etwa zur Empfehlung eines Werbeverbots für klimaschädliche und ungesunde Produkte.„Ich bin toleranter geworden gegenüber Menschen, die nicht so strikt auf vegetarische Ernährung achten, denn mir ist jetzt klar, dass es mit fehlender Aufklärung zusammenhängt.“ Schoon erlebte in ihrer Arbeitsgruppe, dass letztendlich alle bereit waren, zugunsten des Klimas in Zukunft ihre Ernährungsgewohnheiten zu verändern. Nur deshalb war es möglich, die völlige Umstrukturierung der Landwirtschaft bis 2030 einschließlich einer erheblichen Reduzierung der Nutztierbestände in das Gutachten aufzunehmen. Schoon ist stolz darauf, dass die Maßnahmen für den Ernährungssektor weit über die Pläne aller großen Parteien, auch die der Grünen, hinausreichen und vom Bürgerrat zu 90 Prozent angenommen wurden.Insgesamt ist das Gutachten – auch dank der wissenschaftlichen Begleitung – erstaunlich gut ausgearbeitet. Was fehlt, sind Maßnahmen zur Bauwende und zur Umgestaltung der Industrie. Mit mehr Zeit zum Diskutieren hätten die Bürger:innen wahrscheinlich keinen Kohleausstieg bis 2030 empfohlen, sondern einen noch schnelleren, der mit dem 1,5-Grad-Ziel vereinbar und trotzdem realistisch wäre, sofern alle geforderten Maßnahmen zur beschleunigten Energiewende umgesetzt würden.Wie viele der Vorschläge die neue Regierung aufgreifen wird, bleibt abzuwarten. Immerhin signalisierten Grüne und SPD grundsätzliches Interesse am Bürgergutachten, doch die Gefahr besteht, dass es nur als Feigenblatt dienen wird. „Es gibt Schnittmengen zwischen den ersten Sondierungsergebnissen und den Empfehlungen des Bürgerrats Klima. Es kommt aber auf die Details an“, kommentiert Rabea Koss, Sprecherin des Bürgerrats.Placeholder infobox-1