Er ist der europäische Edward Snowden. Doch im Gegensatz zu dem US-amerikanischen Whistleblower ist der Franzose Antoine Deltour sehr öffentlichkeitsscheu. Deltour, ehemaliger Steuerexperte der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC), hat den Lux-Leaks-Skandal ins Rollen gebracht. Dank Deltour wurden die dubiosen Methoden öffentlich, mit denen das Großherzogtum Luxemburg Konzernen bei der Steuerflucht geholfen hat. Heute wird der Oberste Gerichtshof in Luxemburg entscheiden, ob der 31-Jährige dafür ins Gefängnis muss.
Der Lux-Leaks-Skandal löste im November 2014 massive Empörung aus. Die von Journalisten veröffentlichten Dokumente belegen, dass Luxemburger Behörden Konzerne systematisch ins Land lockten, indem sie eine günstige steuerliche Behandlung gewährten. Bis heute ist die Sache nicht abschließend geklärt. Fest steht: Luxemburg hat für mehr als 300 Unternehmen Steuerflucht organisiert, darunter Amazon, Apple, Eon, Ikea und McDonald’s. Die Länder, in denen die Gewinne der Konzerne entstanden waren, gingen leer aus. Im Zentrum der Kritik: Jean-Claude Juncker, heute Präsident der EU-Kommission und zuvor langjähriger Finanzminister und Premier von Luxemburg. Er hat wie andere Steuerfluchthelfer den Sturm der Entrüstung mehr oder weniger unbeschadet überstanden.
Bis zu zehn Jahre Gefängnis
Das gilt nicht für Antoine Deltour und zwei weitere Männer, die an der Aufdeckung des Skandals beteiligt waren. Seit einigen Wochen stehen sie in Luxemburg vor Gericht. Der Tatvorwurf: Deltour soll am 13. Oktober 2010 innerhalb einer halben Stunde 2.669 Dokumente mit 45.000 Seiten aus dem Firmensystem kopiert und an den Journalisten Edouard Perrin gegeben haben, der als Erster über den Skandal berichtet hat. Perrin soll später den mitangeklagten ehemaligen PwC-Mitarbeiter Raphaël Halet angestiftet haben, noch mehr Material zu beschaffen. Den Angeklagten werden unter anderem Diebstahl, Verstoß gegen die Schweigepflicht sowie die Veröffentlichung von Geheimunterlagen vorgeworfen. Ihnen droht eine Strafe von bis zu zehn Jahren Gefängnis sowie hohe Geldstrafen. Ausgelöst wurde das Verfahren durch eine Klage von Deltours ehemaligem Arbeitgeber PwC.
Eigentlich stand Deltour eine glänzende Karriere in der Welt des großen Geldes bevor. Der Sohn eines Mathematiklehrers und einer Ärztin ist in Epinal an der Mosel aufgewachsen, einem 30.000-Einwohner-Städtchen in Lothringen. Ein Nachbar der Familie ist Wirtschaftsprüfer, er verdient viel Geld, fährt ein dickes Auto. So einen Beruf will der junge Deltour auch. Er schafft es auf die Grande école in Bordeaux, eine der Brutstätten der französischen Elite. Für ein Praktikum kommt er zu PwC in Luxemburg – und erhält ein Jobangebot. Ab 2008 arbeitet er als Steuerexperte für PwC in der Finanzmetropole Luxemburg.
Zunächst gefällt es ihm in dem Großraumbüro in der Rue Eugène Ruppert. Er hat einen Dienstwagen, verdient gut. Zu seinen Aufgaben gehört die Bilanzprüfung von Immobiliengesellschaften und Fonds. Viele sind Briefkastenfirmen, viele zahlen kaum oder keine Steuern. Der Job frisst seine ganze Zeit. Deltour wird unzufrieden. Er will nicht länger Teil des Systems sein, in dem Unternehmen Steuersparmodelle verkauft werden. Er kündigt.
„Aus Überzeugung gehandelt“
Unklar ist, wie er an die brisanten Dokumente gekommen ist. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, sie bewusst gesucht zu haben. Er sagt, er habe sie zufällig gefunden und auf seinen Laptop kopiert – ohne sich zunächst im Klaren gewesen zu sein, wie brisant sie waren. Je länger er aus Luxemburg weg ist, desto größer wird seine Empörung über die Steuerflucht. Er diskutiert in Online-Foren. Dort stößt der Journalist Perrin auf ihn. Deltour übergibt ihm das Material. „Ich habe aus Überzeugung gehandelt“, sagte Deltour der französischen Zeitung Libération in einem der wenigen Interviews, die er gegeben hat. Und: „Ich bin nur ein Teil einer größeren Bewegung.“
Perrin macht aus dem Material 2012 eine Fernsehsendung – ohne Resonanz. Im Juni 2014 wird Deltour plötzlich verhaftet, er arbeitet mittlerweile als Statistiker bei einer anderen Firma. Es stellt sich heraus, dass PwC schon 2012 Anzeige erstattet hat und die Ermittlungen lange dauerten. Deltour ist verzweifelt, er fürchtet, für einen Bericht ins Gefängnis zu gehen, der nichts bewegt hat. Immerhin kommt er bald wieder auf freien Fuß.
Im November 2014 schließlich veröffentlicht ein internationales Journalistennetzwerk die Dokumente. Jetzt ist die Empörung groß. Anders als 2012 steht mit Jean-Claude Juncker nun ein Politiker im Mittelpunkt, der als gerade gewählter EU-Kommissionspräsident von internationalem Interesse ist. Deltour ist plötzlich berühmt. Der Druck, der auf ihm lastet, ist enorm. Er verliert seinen neuen Job. Er nimmt psychologische Unterstützung in Anspruch. Mittlerweile hat er eine Familie gegründet und eine Tochter bekommen.
Jetzt läuft sein Prozess. „Antoine Deltour bereut nichts“, sagte sein Anwalt vor Verhandlungsbeginn. „Er handelte allein nach bestem Gewissen, ohne Hintergedanken.“
Deltour hat viele Unterstützer. 120.000 Menschen haben mittlerweile eine Internet-Petition für ihn unterzeichnet. Solidarität erfährt Deltour auch im Europäischen Parlament von den Abgeordneten Sven Giegold (Grüne) und Fabio De Masi (Linke). De Masi bezeichnet den Prozess als Stresstest für Steuergerechtigkeit. Es verletze das Rechtsempfinden der Bürger, „wenn einem Hinweisgeber Gefängnis droht, während die Architekten des Steuersumpfes höchste Ämter bekleiden“.
Unter Führung von Juncker hat die EU-Kommission vor kurzem einen Vorschlag zur Bekämpfung der Steuerflucht von Unternehmen vorgelegt. Kritiker halten ihn für völlig unzureichend. In Deltours Prozess ist das egal.
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