Rekjavík, vor vier Jahren. Birgitta Jónsdóttir, damals noch einfache Abgeordnete, sitzt in einem amerikanischen Restaurant um die Ecke vom isländischen Parlament und pult sich blauen Lack von den Fingernägeln. „Die Leute müssen die Macht des Individuums begreifen. Jeder kann die Geschichte verändern“, sagt sie und meint dabei nicht unbedingt sich selbst. Dabei trifft der Satz auch hervorragend auf sie zu. Die alleinerziehende Mutter ist heute Vorsitzende der Piratenpartei und könnte demnächst Islands neue Ministerpräsidentin werden.
International bekannt wurde sie im Jahr 2010 durch die Zusammenarbeit mit der Enthüllungsplattform Wikileaks, als Koproduzentin des Videos „Collateral Murder“. Der Guardian führt sie auf Platz zwei unter den wichtigsten Kämpfern für ein freies Internet. In Island will Jónsdóttir direkte Demokratie und strenge Transparenzregeln einführen, die staatliche Überwachung einschränken. „Die westlichen Regierungen benutzten die Terrorgefahr, um die Grundlage unser Demokratien aufzulösen. Wie können wir dabei tatenlos zusehen?“, fragt sie. Wenn es nach ihrer Partei ginge, würde Edward Snowden isländische Bürgerrechte bekommen.
Was sich bisher als eher wirklichkeitsfremder Idealismus ausnahm, könnte bald Realität werden. Nach der Veröffentlichung der Panama Papers und den darauf folgenden Massenprotesten ist Islands Ministerpräsident David Gunnlaugsson zurückgetreten. Er hatte eine Offshore-Briefkastenfirma nicht deklariert. Nun sind Neuwahlen für den Herbst angesetzt, ein Übergangspremier hat die Leitung der Regierungsgeschäfte übernommen. Jónsdóttirs Piratenpartei ist mit 36 Prozent derzeit die beliebteste politische Kraft im Land.
„Eher eine Autokratie“
Ob Jónsdóttir bei einem Wahlsieg der Piraten auch Ministerpräsidentin wird, ist allerdings noch unklar. Sie ist zwar Vorsitzende, doch dieser Posten rotiert. Die isländischen Piraten betonen, keine traditionelle Führungsstruktur zu haben – und zu wollen. Es werde jeweils die Person gewählt, die am geeignetsten sei. Jónsdóttir würde das Amt der Ministerpräsidentin jedenfalls nicht ablehnen. „Wenn niemand anderes es tun kann oder tun will, dann würde ich es machen“, sagt sie.
Ein Land zu führen, sei jedoch nie ihr Ziel gewesen. Tatsächlich begreift sich die Frau mit den himmelblauen Augen, prominenter Zahnlücke und einer Vorliebe für Punk- und Ethno-Kleidung nicht in erster Linie als Politikerin, sondern als Dichterin und Hackerin des politischen Systems. „Unsere Demokratie ist eine Schande“, sagt sie. „In vielerlei Hinsicht ist sie eher eine Autokratie.“
Ihre politische Karriere begann, als die isländische Wirtschaft im Herbst 2008 zusammenbrach. Jónsdóttir organisierte Protestmärsche, forderte an vorderster Front den Rücktritt der Regierung. Der Bürgerprotest brachte die Partei „Die Bewegung“ hervor, bei den Neuwahlen 2009 zog sie auf diesem Ticket ins Parlament ein. Drei Jahre später gründete sie die Piratenpartei mit.
Überentwickeltes Unrechtsbewusstsein
Kritik an den Mächtigen scheut sie nicht. Als der chinesische Premierminister zu Besuch in Reykjavík war, stand die Abgeordnete mit einem kleinen roten Megafon und Tibetflagge mitten zwischen den Demonstranten und schrie „Free“, die Menge antwortete: „Tibet!“ Sie hat sogar die US-Regierung schon mehrmals verklagt – etwa wegen des Verteidigungsgesetzes, das es der Exekutive erlaubt, Personen unbegrenzt festzuhalten, ohne ihnen Zugang zu einem Anwalt oder Gericht zu gewährleisten. Unter vielen US-amerikanischen Konservativen gilt Jónsdóttir wegen ihres Wikileaks-Engagements als Terroristin.
Drohungen und Kritik sieht Jónsdóttir gelassen. „Wenn ich mächtige Leute gegen mich aufgebracht haben sollte, dann bin ich mir sicher, dass sie einen Weg finden werden, mich umzubringen“, sagt sie trocken und rührt Milchpulver in ihren Tee. Sie sei Buddhistin, esse seit 25 Jahren kein Fleisch und ja, es gebe schlimmere Sachen als den Tod. Mit Heldentum habe das nichts zu tun. Jónsdóttir lächelt. „Nur mit einem überentwickelten Unrechtsbewusstsein.“
Geprägt haben die 49-Jährige schwere Verluste. Durch ihre persönliche Geschichte ziehen sich unzählige Umzüge im In- und Ausland, Aushilfsjobs, drei Kinder von drei Männern und viel Einsamkeit. Als sie zwölf Jahre alt war, verunglückte ihre Tante, ihre engste Vertraute. Acht Jahre später nahm sich ihr Vater das Leben. Als sie 26 und schwanger mit ihrem Sohn war, beging ihr Mann Suizid. Jónsdóttir zog sich zurück, schrieb Gedichte über den nuklearen Holocaust mit Eyelinern, malte Bilder von dunklen Tunneln und Feuer.
Sie war auf dem Weg, eine etablierte Dichterin in Island zu werden. Doch als sie 1995 das Internet entdeckte, war es für sie eine Offenbarung. Durch einen ihrer Jobs, zu dem Zeitpunkt war sie gerade Verkaufsleiterin eines der ersten Internetunternehmen Islands, lernte sie Programmierer kennen. Bald schrieb sie ihre eigenen Webseiten.
Robin Hood der Regierungen
Als Julian Assange mehr als zehn Jahre später für eine Konferenz nach Island kam, war sie fasziniert. Assange stellte Wikileaks vor und die Idee, Island in einen sicheren Hafen für Meinungsfreiheit zu verwandeln. „Ich habe ihm gleich am ersten Abend gesagt: Lass uns das machen“, erzählt Jónsdóttir.
Auch wenn das Verhältnis zwischen ihr und Assange inzwischen abgekühlt ist, kämpft sie weiter für ihre Ideale. „Wir wollen der Robin Hood der Regierungen sein und die Macht von den Oberen an die Bevölkerung geben“, sagt sie. Geschehen soll dies durch eine neue Verfassung, die von Islands Bürgern nach der Finanzkrise im Jahr 2008 erarbeitet und in einem Referendum befürwortet wurde. Würden die Piraten im Herbst die Regierung übernehmen, wäre deren Umsetzung ihre erste Tat.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.