„Die Welt ist im Arsch“, schreit der Vater. Und die große Frage ist: Wie soll man selbst in dieser Welt leben? Wie kann ein Kind darin leben?
Mit Angst und Überforderung sind fast alle Figuren in Nacht ohne Sterne des österreichischen Autors Bernhard Studlar konfrontiert. 2017 wurde der Text am Nationaltheater Bratislava uraufgeführt, am Schauspiel Leipzig bringt ihn der 1986 in Eisenach geborene Gordon Kämmerer zur deutschen Erstaufführung. Im zeitlichen Rahmen einer Nacht treffen in einer unbekannten Stadt elf Figuren aufeinander, die sich während der Begegnungen immer wieder mit den Bedrohungen ihres Lebens auseinandersetzen. Das zentrale Motiv des Textes, erklärt Studlar bei der öffentlichen Probe, ist unser aller „Angst vor dem Verlust“. Einmal ist es die Angst des Vaters, seine Existenz durch Spielschulden zu verlieren, ein anderes Mal die Angst der Ärztin vor der Vereinsamung. Und da ist der bevorstehende Tod eines Patienten.
Studlars Text orientiert sich dramaturgisch an Arthur Schnitzlers Reigen. Auch bei Studlar treffen jeweils zwei Figuren aufeinander, von denen die eine dann auch in die nächste Szene übergeht. Individuelle Umstände kollidieren so miteinander, beispielsweise der Feierabend der Kindergärtnerin mit der Verspätung der Mutter, die ihr Kind abholt. Die Umstände, unter denen die Figuren im Stück leben, werden zwar nur angedeutet, knüpfen aber offensichtlich an die heutige Zeit an. Über die Szenen hinweg wird wiederkehrend auf „Demonstrationslärm“ und „Sirenengeräusche“ verwiesen. Studlar beschreibt es als ein „Bedrohungsszenario“. Es wirkt, als würde da etwas Gewaltiges unter der Oberfläche brodeln.
Bei der Aufführung in Bratislava trat ein Identitärer auf die Bühne. Vorlage hierfür war die Stürmung einer Theateraufführung von Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen 2016 in Wien, bei der Mitglieder der Identitären Bewegung Kunstblut verspritzten und Flugblätter mit der Aufschrift „Multikulti tötet“ in die Menge warfen. Nacht ohne Sterne ist aber keine Auseinandersetzung mit der Bewegung, sondern vielmehr mit den Ängsten, die sie heraufbeschwört. Gordon Kämmerer fokussiert sich ganz auf das Bedrohungsszenario. Dabei schöpft er alle ihm zur Verfügung stehenden gestalterischen Elemente aus.
Der Vater, die Strumpfhose
Die Zuschauer müssen sich an zwei Seiten der sonst nachtschwarzen und benebelten Bühne in der sogenannten Diskothek des Schauspielhauses verteilen. In deren Mittelpunkt steht eine hölzerne Veranda mit einem fein vergitterten Pavillon. Für Mutter und Vater stellt sie einen Schutzraum dar, denn „das da draußen geht mich nichts an“. Draußen treten die Figuren, die ihren Auftritt hatten, einen scheinbar ewigen Marsch der Routine an. Sie laufen in langsamen Schritten immer wieder um das Haus und werden Teil einer Masse, durch die sie sich selbst bedroht fühlen.
Während der Identitäre bei der Uraufführung des Textes in Bratislava 2017 auf die Bühne kam, verzichtet Kämmerer in seiner Inszenierung auf diesen Auftritt. Für ihn wirken die Ängste dann am stärksten, wenn man sie „nicht ganz so konkret benennt, denn dann kann ich mehr mit den Ängsten in den Köpfen spielen“. Folgerichtig bedient er sich in Hinblick auf seine Kostüme (Josa Marx) einer Reihe grotesker Überzeichnungen, die das Ihrige zur Imagination beitragen. Darunter die Darstellung des Vaters (Wenzel Banneyer), der in einem mönchsartigen Gewand mit über den Kopf gezogener Strumpfhose wie ein aus der Zeit gefallener Räuber daherkommt, oder das Mädchen (Alina-Katharin Heipe), die mit ihrem malträtierten Gesicht ein bisschen an Samara aus dem Horrorfilm The Ring erinnert. Diese Darstellungen wirken umso stärker durch die märchenhafte Inszenierung von Figuren wie der Schauspielerin Marie Rathscheck als göttliche Statue.
Eine weitere Ebene bildet die Videoprojektion über den Köpfen der Figuren, sie zeigen Kamerafahrten über eine Tagebaulandschaft. Hier sind Abzüge der Figuren zu sehen, sie mahnen eine dystopische Zukunft. Trotz der kleinen Bühne in der Diskothek kann Kämmerer mit einer Ausnahme alle Figuren einzeln besetzen. Aufgrund der weitestgehend dialogischen Auseinandersetzungen müssen die Schauspieler schnell überzeugen.
Das gelingt besonders Katharina Schmidt als Kindergärtnerin, die vor lauter Ohnmacht gegenüber der Welt in ihrer Artikulation und in ihrem Gestus förmlich bebt wie ein Vulkan, der gleich auszubrechen droht. Mit bestimmt-herrischer Stimme mimt Alina-Katharin Heipe das aggressiv gelangweilte Mädchen auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.
Rasante 70 Minuten sind das, Kämmerer schafft es fabulös, den Spannungsbogen zu halten, vor allem durch die frech-fröhlichen Auftritte des personifizierten Todes. Der ist stets über alle Probleme erhaben und provoziert mit seiner Haltung einige Lacher. Der Applaus will auch nach Öffnen des Saales nicht verebben.
Info
Nacht ohne Sterne Gordon Kämmerer (Regie), Bernhard Studlar (Text), Schauspiel Leipzig
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