Digitaler Homo Faber

Loveparade Die Amateur-Aufnahmen von der Loveparade machen es nur allzu deutlich: Die Digitalisierung der Welt hat die Kulturtheorie von einst auf den Kopf gestellt

Täglich tauchen neue Katastrophen-Videos von der Loveparade in Duisburg auf. Verwackelte Bilder zeigen Menschen, dicht an dicht gedrängt, schreiend, weinend. Sie werden über Geländer gezogen und fallen doch wieder in die Massen herab, kämpfen um ihr Leben. Und immer wieder blitzen auch Fotoapparate, werden Handykameras hochgehalten, die versuchen, das Schicksal Hunderter festzuhalten. Diese Amateur-Videos sind die einzigen Bilder kurz vor oder nach dem Unglück mit mittlerweile 21 Todesopfern. Sie verbreiten sich mit rasender Geschwindigkeit über Youtube, Twitter und andere Internetforen, werden zu Tausenden geklickt.

Tatsächlich hautnah dabei waren aber nur die Amateur-Filmer selbst, was schrecklich genug ist. Was bewegte diese Menschen, den Schrecken auch noch auf Video festzuhalten? Ein Kommunikationstheoretiker liefert in einer Nachrichtensendung eine Erklärung: Die Menschen filmten, um sich selbst vor der unmittelbaren Katastrophe zu schützen. Ich filme den Schrecken, um ihn nur mittelbar vor Augen zu haben. Die Linse als Filter zur Welt. Schon Max Frisch hat dieses Motiv seinem Walter Faber unterstellt. Die Figur fürchtet sich vor dem Zufall, der in sein geregeltes Leben eindringt. Plötzlich bringt ihn sein eigenes, einst rationales Leben durcheinander, es ängstigt ihn. Faber tritt die Flucht in eine technische, hochgradig rationalisierte und so vermeintlich sichere Welt an: Er fotografiert seine Eindrücke, um sich selbst vor ihnen zu schützen.


Mag dieser Ansatz zu Frischs Zeiten der anfänglichen Technisierung noch zutreffend gewesen sein, heute – und besonders im Fall der Katastrophe von Duisburg – ist er längst überholt. Die Menschen von heute, vor allem die jungen, wissen um die Möglichkeiten der digitalen Welt. Sie filmten das Unglaubliche nicht, um vor ihm zu flüchten oder es wegzuschieben. Sie filmten, um es greifbar zu machen, es festzuhalten. Heute lautet das Motto: Nur was ich sehe, kann ich auch glauben, ist auch wirklich passiert. Das Internet als Quelle, die die Sensationsgier vieler tausend User befriedigt, ihnen gibt, was Nachrichtensendungen dieses Mal nicht liefern können: das Gefühl, direkt dabei zu sein, den Schrecken hautnah zu spüren, Realität zu erleben. Die digitale Welt hat die Theorie von einst auf den Kopf gestellt.

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