Dass es so schlimm kommen würde, hatte keiner geahnt. Oder doch? Jochen Faiz ist ein ruhiger, zurückhaltender Mann mit Brille, Hemd und immer gleich gebundenem Schal um den Hals. Seine kleine Reinigung mit dem raketenroten Schriftzug „Comet – Textilreinigung“ wirkt wie aus der Zeit gefallen und reiht sich doch ungewollt stilsicher in die bunten Geschäfte des Hamburger Szenekiezes Ottensen ein. Jochen Faiz kam vor über dreißig Jahren aus Bangladesch hierher, hat sich vom Angestellten zum Inhaber der kleinen Wäscherei hochgearbeitet.
30 Jahre lang lief das Geschäft gut bei ihm, der eigentlich kurz vor der Rente steht. Die Menschen schätzen ihn. Hinter der Ladentheke hängen, sorgfältig von Folien umhüllt, Hunderte von bunten Kleiderstücken, die ruckelnd hin- und herfahren. Alte Damen bringen schwere Gardinen zu ihm, Theater feine Kostüme oder Anwohner zerknitterte Hemden. Faiz kann alles reinigen, zum Saubermannpreis. Viele seiner Kunden kommen wieder, immer wieder.
Bis Faiz im September 2019 das erste Schild aufstellen musste: Wer seine Wäsche mit dem Auto anliefere, könne das nur noch zwischen 8 und 11 Uhr am Morgen tun, teilte er höflich mit. Ein halbes Jahr später, Anfang Februar 2020, dann ein neuer Text, wieder freundlich, dafür in dreifacher Ausführung. Ein Schild hüfthoch im Schaufenster, eines an der Preisliste, eines neben der Kasse. Darauf der immer gleiche Satz, den niemand übersehen soll: „Wir waren nicht an der Klage beteiligt.“ – Das Wort „nicht“ ist fett gedruckt und zwei Mal unterstrichen, raketen-rot.
Es hätte alles so schön sein können. So schön wie an jenem Samstag im September 2019, als grüner Rollrasen über das Kopfsteinpflaster der Ottenser Hauptstraße gerollt wurde. Als mitten auf der Straße Tischtennisplatten standen, wo sich bis zum Vortag noch Fahrräder zwischen Autos gedrängt hatten. Als Anwohner auf dem Rasen Yoga machten, wo sonst Autos fuhren, und Beete angelegt wurden, wo sich normalerweise dicht an dicht Parkplätze reihten. Kein ruhendes Blech mehr, sprach die Bürgerschaftsabgeordnete der Grünen, Eva Botzenhard, fröhlich in eine Kamera. Keine nervigen Autos mehr, freute sich eine junge Frau mit Schaufel in der Hand.
Hamburg-Ottensen wurde an jenem Septembertag autofrei auf Probe – für 12 Stunden jeden Tag, zwischen 11 Uhr am Morgen und 11 Uhr am Abend in vier zusammenhängenden Straßenzügen. Zwar durften keine Autos mehr an den Straßenrändern parken; Taxen, Anwohnern mit eigenem Stellplatz und solchen mit einem Schwerbehindertenausweis aber war die Durchfahrt gestattet. Ausnahmen erhielten auch die Zulieferer der drei Apotheken und der Transporter der Blumenverkäuferin.
Sechs Monate lang, bis Februar 2020, wollte der Bezirk hier die Verkehrswende proben. Dafür wurde eine Internetseite in Senfgelb und Pink aufgesetzt, passende Holzbänke und Schilder aufgestellt, die Straße bemalt. Alles formvollendet im Corporate Design. Begleitet von Wissenschaftlern und Fragebögen. Das perfekte Projekt in einem perfekten Stadtteil. Wo kann die Verkehrswende funktionieren, wenn nicht hier?
44 Prozent für die Grünen
Bei der Wahl der Bezirksversammlung im Mai 2019 stimmten 43,9 Prozent für die Grünen; weniger als ein Drittel der Anwohner besitzt ein Auto. Die meisten sind eh schon mit dem Rad unterwegs. Und so waren an jenem Septembertag alle Anwesenden ganz beseelt vom autofreien Ottensen: Die Anwohner, die Autos am liebsten gleich aus der ganzen Stadt verbannt hätten, und die Politiker, die mächtig stolz waren auf ihr Vorzeigeprojekt, das rekordverdächtig schnell Wirklichkeit wurde. Die Grüne Eva Botzenhard ließ sich bei der Eröffnung zu tollkühneren Träumen hinreißen: Das Projekt sei erst der Anfang, sagte sie. Der Anfang von etwas ganz Großem. „Autofreie Städte“, nickte sie. „Auf den Weg haben wir uns längst gemacht.“ Doch das Projekt wird scheitern. Schon bevor es an den Start geht, haben sich zwei Lager gebildet.
Im August 2019, kurz vor Beginn der autoarmen Zeit, trafen sich die Gegner zum ersten Mal in der alten Druckerei in Ottensen. Sie sind viele – und von Anfang an gut organisiert. So fütterten sie hernach nicht nur die sozialen Netzwerke, sondern gekonnt auch bundesweit die Medien. Die Gegner sind keine „Autonarren“ und werden nie müde, das zu betonen. Denn in Wirklichkeit wollen auch sie gerne weniger Autos vor ihrer Tür. Nur eben nicht so. Das Verkehrsprojekt sei: zu radikal, zu unausgewogen, zu chaotisch. Warum wurde das Parken nicht zuerst nur Anwohnern erlaubt? Welche Lösung gibt es für Rentner? Welche für die Gewerbetreibenden, die Angst vor Umsatzeinbußen haben? Die Gegner haben viele Fragen, und die Politik zu wenig Antworten.
Da ist die Rentnerin Gisela Alberti: schlecht zu Fuß. Sie hat, wie es im Projekt vorgesehen ist, ihr Auto schon seit Jahren in einem Parkhaus eingemietet. Bekommt jetzt aber keine Ausnahmegenehmigung, um mal kurz, wie sonst, vorfahren zu können. Da ist Jochen Faiz von der Reinigung, der vorrechnet, ein Fünftel seiner Kunden komme mit dem Auto, 20 Prozent des Umsatzes. Da sind die Apotheken, deren Zulieferer noch keine Ausnahmegenehmigung bekommen haben. Die Blumenhändlerin, die Fahrschule, der Copyshop. Jeden drückte das Verkehrsprojekt woanders. Die Wirklichkeit ist komplexer als die Politik. Und so schwankte an jenem Abend die Stimmung bei den Gegnern zwischen gereizt und ratlos, blieb aber stets kämpferisch. Man wolle sich Hilfe von Anwälten holen.
Ein halbes Jahr später, Februar 2020. Der größte Teil der Apotheke ist für Kunden unsichtbar. Hinter der Wand aus bunten Verpackungen mit Medikamenten geht Anette Kaiser-Villnow an rollenden Regalen und Tinkturen vorbei in einen der kleinen Büroräume. Auf dem roten Sofa sitzend scrollt sie durch ihre Fotos: „So., 2. September. Einen Tag nach der Eröffnung.“ Ein paar verlorene Autos parken im Nieselregen. Ein Radfahrer. „Ahhhh ...“, sagt die Apothekerin. „Kein Mensch, kein Auto, kein Radfahrer. Das war am 3. September um 14 Uhr 9. Mitten am Tag.“
Tatsächlich war von den Tischtennisplatten, den Yogamatten und dem grünen Rollrasen schon am nächsten Tag nicht mehr viel übrig. Auch sonst war es ziemlich leer auf der Straße – Autos gab es ja kaum mehr. Nur, dass auch keine fröhlichen Fußgänger die Straße bevölkerten. Auf dem Kopfsteinpflaster läuft es sich schlecht. Der Bezirk schüttete also kiloweise Sand aus, um die Steine zu verfugen. Dank dem Hamburger Regen gelang das nur mäßig.
Die Straßen waren plötzlich nicht nur ungewohnt leer, sondern der Bezirk zudem auch ungewohnt gespalten. Was die NDR-Satiresendung Extra 3 in ihrer Rubrik „Realer Irrsinn“ auf „weniger Autos, mehr Stress“ zuspitzte, spaltete in Wirklichkeit den gemütlichen Bezirk. „Ich habe junge Kunden, ich habe alte Kunden, Alt-Ottenser und Gentrifizierte“, sagt die Apothekerin. Dass alle immer glücklich miteinander waren, das war halt Ottensen, so Kaiser-Villnow. „Doch dieser unterschwellige Hass jetzt, diese Aggression, das finde ich ganz, ganz schlimm. Und das hat tatsächlich auch mein Bild von Ottensen total verändert.“
Auf den Straßen kam es zu absurden Szenen: Fußgänger wiesen Radfahrer zurecht, die ungehindert durch die Straßen rasen konnten. Radfahrer maßregelten Autos, die doch eigentlich nicht mehr durchfahren dürften. „Autos wurden flankiert und angehalten, es wurde aufs Dach geklopft“, erzählt Kaiser-Villnow, „das war schon erschreckend, wie viele Hilfssheriffs es plötzlich gab.“ Einer zeigte ihr jeden Morgen den Mittelfinger, wenn sie mit dem Auto zu ihrer Apotheke fuhr. Dass sie eine Ausnahmegenehmigung hatte, schien er bis zuletzt nicht begreifen zu wollen.
„Fahrradschlampen“
Ein Anwohner mit eigenem Tiefgaragenstellplatz erzählte im Fernsehen, wie ihm ein alter Mann eines Morgens den Weg versperrt und sich von seiner gezückten Ausnahmegenehmigung in Senfgelb und Lila wenig beeindruckt gezeigt hatte. Andere berichteten gar von einer Mutter mit Kinderwagen, die zusammen mit zwei anderen ein Auto so lange behindert hatte, bis die Polizei einschreiten musste. Plötzlich gab es „Fahrradschlampen“ und „Verkehrsfaschos“ in dem sonst so liberalen und gemütlichen Ottensen. So maßregelte den Herbst hindurch munter jeder jeden. Bis wenig später, kurz vor dem offiziellen Ende des Verkehrsprojektes, das Hamburger Verwaltungsgericht alle mit einem unbequemen Machtwort überraschte.
Zwei zunächst Unbekannte hatten gegen den Modellversuch geklagt. Im Januar 2020 gab das Gericht den beiden unerwartet recht. „Ottensen macht Platz“ sei wahrscheinlich rechtswidrig. Die Verkehrswende für sechs Monate „mal auszuprobieren“, reiche als Rechtsgrundlage nicht aus, um so schwerwiegend in die Rechte der Gewerbetreibenden einzugreifen. An der grundsätzlichen Frage aber – Autos ja oder nein – rüttelte das Gericht nicht. Der Bezirk brach das Verkehrsprojekt Ende Januar vorzeitig ab, entfernte die Verkehrsschilder und ließ Autos wieder fahren, egal wann, egal wer, egal wohin.
Doch auch das Gerichtsurteil konnte den Streit über die vier autoarmen Straßen nicht schlichten, den Groll im Bezirk nicht besänftigen. Tatsächlich erreichte das Drama um das „autofreie Ottensen“ erst nach dem Machtwort des Gerichts seinen traurigen Höhepunkt. In Ottenser Facebook-Gruppen startete eine Hexenjagd. Wer waren die zwei Kläger? Die Apotheke, die Reinigung, die Fahrschule? Wer hatte am lautesten gegen das Projekt gewettert? Ein Aufruf machte die Runde, Anwohner sollten bei Gegnern des Projekts nicht mehr einkaufen gehen. Politiker schalteten sich ein. Warnten, das erinnere an „dunkle Zeiten“.
Jochen Faiz bekam in seiner Reinigung mit dem raketenroten Schriftzug „Comet“ plötzlich Anrufe von enttäuschten Kunden. Die eine, die er seit Jahren kenne, sagte ihm, dass sie nicht mehr kommen werde: „Sie waren gut, aber sie haben geklagt.“ Manche stellten ihn im Laden zur Rede. Die Apothekerin Kaiser-Villnow bekam plötzlich schlechte Bewertungen auf Google. Als sie sich Sorgen machte und dem nachging, erfuhr sie, dass auch andere, dem Verkehrsprojekt gegenüber kritische Ladeninhaber solche Online-Bewertungen erhalten hatten.
Jochen Faiz ist überrascht und enttäuscht. „Die hätten mich fragen können, ob ich geklagt habe!“ Er steht in seinem weißen Hemd hinter der Ladentheke, nebenan arbeitet der Schuster lärmend an einem Schuh. „Die hätten mich doch fragen können!“
Im Februar 2020 trat die Bezirksversammlung Altona zusammen und stritt über das Projekt. Wo beim ersten Mal vor gut einem Jahr noch fast einhellige Begeisterung herrschte, gab es jetzt „Brandstifter“ und solche, die doch nur ihre „Ideologie durchpeitschen“ wollten. Der „Streit eskaliere“, titelten Zeitungen. Trotzdem, die Stimmen von Grünen und CDU reichten, um Ottensen wieder autofrei werden zu lassen. Oder „autoarm“, wie jetzt alle betonen. Dafür aber dieses Mal nicht mehr nur auf Probe, sondern gleich auf ewig, und auch gleich noch in zwei weiteren Straßenzügen.
Doch wann genau die Autos wieder raus aus Ottensen müssen – das weiß gerade keiner. Interessiert zurzeit auch keinen. Denn mit dem Virus haben alle nun andere Sorgen. Die Anwohner genau wie die Gewerbetreibenden. Für wen es vorher nicht schon ums Überleben ging, für den tut es das jetzt. Corona hat den Streit über das bisschen Blech auf vier Rädern in vier halben Straßen mit Kopfsteinpflaster zu einer Pause gezwungen. Das Ende der Geschichte aber ist es nicht.
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