Kaum eine Branche ist vor sexueller Gewalt gefeit. Über Machtmissbrauch, Misogynie und Diskriminierung in der amerikanischen Unterhaltungsindustrie wurde im Rahmen von #metoo viel berichtet. Ebenso kamen sexuelle Übergriffe in europäischen Parlamenten ans Licht. Jüngst wird vermehrt über Fälle groben Machtmissbrauchs an Universitäten berichtet, zum Beispiel in Stanford und Zürich. Für Diskussionen sorgt nun ein Vorfall an der New York University (NYU), bei dem einer prominenten Professorin Fehlverhalten vorgeworfen wird. Die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse im Wissenschaftsbetrieb treten in diesem Fall offen zutage.
Seit über einer Woche kursiert ein Brief prominenter Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler im Internet. Der an den Präsidenten und Provost der NYU adressierte Brief legt offen, dass die Universität eine Art Disziplinarverfahren („Title IX“) gegen die berühmte Literaturwissenschaftlerin Avital Ronell durchführt. Title-IX-Verfahren an US-amerikanischen Hochschulen beschäftigen sich mit sexueller Gewalt und Diskriminierung. Der in einer Entwurfsfassung geleakte Brief ist am 10. Juni 2018 auf dem Blog „Leiter Reports“ veröffentlicht worden und ist an erster Stelle von Adorno-Preisträgerin Judith Butler unterzeichnet. An dieser Stelle kann es nicht um die Vorwürfe gegen Ronell oder gar die Frage gehen, ob sie sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Aufschlussreich aber sind die Argumente, die von ihren Kollegen zu ihrer Verteidigung vorgebracht werden.
Niemand weiß Details
Die Unterzeichner des Briefes betonen, dass ihnen keine Details des Verfahrens bekannt seien und ihnen die entsprechenden Akten nicht vorlägen. Dennoch sprechen sie sich gleich zu Anfang gegen „jedwede Verurteilung“ von Ronell aus. Sie betonen, dass Ronell die Germanistik als Fach geprägt habe, dass ihr intellektuelles Wirken weit ausgestrahlt habe, dass ihre Studierenden an führenden internationalen Forschungseinrichtungen tätig seien und dass sie die „wohl wichtigste Literaturwissenschaftlerin der New York University“ sei. „Sollte sie entlassen oder ihrer Pflichten enthoben werden“, so schreiben die Professoren weiter, „würde diese Ungerechtigkeit breit wahrgenommen werden und Ablehnung erfahren“. Nicht nur gehen sie von vornherein davon aus, dass es sich bei einer möglichen Verurteilung Ronells nur um eine Ungerechtigkeit handeln könne. Es erscheint ihnen zudem erforderlich, Ronells akademische Verdienste im Verlauf des Verfahrens zu berücksichtigen: „Wir fordern Sie dazu auf, dass Sie sich in der Durchsicht der Unterlagen das internationale und wohlverdiente Renommee als brillante Wissenschaftlerin klar vor Augen halten.“
Die rund 50 Unterzeichner schreiben außerdem, dass ihnen die Person, die die Vorwürfe erhoben hat, bekannt sei. Diese Einzelperson, so die Professoren, führe einen „niederträchtigen Feldzug“ gegen Ronell. Weiterhin dürften „die Anschuldigungen gegen Professor Ronell nicht im eigentlichen Sinne als Beweise angesehen“ werden. Im Gegenteil müsse berücksichtigt werden, dass „böse Absicht“ diesen „rechtlichen Albtraum inspiriert und am Leben gehalten“ habe. Der Brief schließt mit der Forderung, Professor Ronell verdiene eine faire Anhörung.
Zunächst wirkt es unbegreiflich, warum eine große Gruppe von Professoren davon ausgeht, an der New York University könne es kein gerechtes Verfahren für Professorin Ronell geben. Es erscheint zudem besorgniserregend, dass die Beschwerde einreichende Person ohne nähere Gründe und ohne Detailkenntnisse als böswillig beschrieben wird. Sprachlos schließlich lässt einen der arrogante Ton zurück, mit dem die Professoren die Unschuld ihrer Kollegin aus ihren wissenschaftlichen Verdiensten herleiten. Ihre gesamte Argumentation spricht den mit dem Vorfall betrauten Zuständigen an der NYU jegliches differenzierte Urteilsvermögen ab. Genau so, wie sich die Unschuld Harvey Weinsteins nicht aus seinen gefeierten Filmen ergibt, ist eine Professorin unschuldig, weil sie Hölderlin so vorzüglich interpretierte.
Offenkundig lassen sich aus der Perspektive der Professoren akademische und persönliche Verdienste gar nicht voneinander trennen. So heißt es im Brief weiter: „Wir bezeugen den Anstand, den Scharfsinn und das intellektuelle Engagement von Professor Ronell und bitten darum, dass ihr die Würde zuteilwird, wie sie jemandem mit ihrem internationalen Ruf und Renommee gebührt.“ Die an der Ludwig-Maximilians-Universität München tätige Professorin Barbara Vinken lässt sogar verlauten, sie schätze an ihrer Kollegin Professor Ronell gerade „eine gewisse Frivolität“, die sie „in allem hatte und hat“. Vinken erklärt, dass diese „gewisse Frivolität nicht durch enterotisierten Puritanismus flächendeckend zubetoniert werden soll“. Das Verfahren an der NYU gegen Ronell bedrohe nach Vinken eine Kultur des Umgangs, die sie „fröhliche Wissenschaft“ nennt. Man stelle sich einmal analog vor, der Vorstandschef eines großen Unternehmens würde ganz selbstverständlich den erotisierten Umgang zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern empfehlen.
Der Friede der Krähen
Dass Professorinnen ihre Kolleginnen verteidigen, scheint Ausdruck gewöhnlichen Corpsgeistes. An der Universität wirkt ihnen ein Vorgang per se verdächtig, der ihre Privilegien antastet. Will man begreifen, warum sich die Professoren trotz der laufenden #metoo-Debatte vor eine mögliche Täterin stellen und das mögliche Opfer angreifen, muss man jedoch die besonderen Abhängigkeiten kennen, die die Universität als Arbeitsplatz charakterisieren.
Persönliche Verhältnisse zwischen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen, Promovierenden und Professorinnen spielen eine große Rolle an Universitäten – weil Professoren keiner Kontrolle unterliegen. Bei der wissenschaftlichen Betreuung von Forschungsvorhaben agieren sie in der Regel wie der private Inhaber eines Betriebs: Entscheidungen über Einstellungen und Geld treffen sie meist allein. Will man einen Karriereschritt gehen, bedarf es stets einer Empfehlung, die einerseits die wissenschaftlichen Leistungen, andererseits persönliche Vorzüge nennen soll. Häufig stellt schon ein nicht eingesandtes Empfehlungsschreiben ein unüberwindbares Hindernis dar. Jede im eigenen Namen vollbrachte Forschung muss dem betreuenden Professor genehm sein. In einigen Disziplinen schreiben sich die Chefs einfach grundsätzlich in die Autorenlisten, ohne auch nur ein Wort beigetragen zu haben. Nachwuchswissenschaftler verstehen sich als Teil einer intellektuellen Community. Man bewundert die Lebensleistung des Betreuers. Gern betonen viele Promovierende ihre ganz besondere Beziehung zu ihrem betreuenden Professor.
Die Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen an der Universität sind eng und innig. So entsteht eine starke persönliche und zugleich berufliche Abhängigkeit. Die Untergebenen müssen daher stets dafür sorgen, dass ihr persönliches Verhältnis zu ihrem Vorgesetzten ausgesprochen gut ist und bleibt. Denn Professoren sind, wie der Brief an die NYU beispielhaft zeigt, stets miteinander in Kontakt. Forschung ist von weltweiter Kommunikation geprägt. Aufgrund solcher Netzwerke gibt es auf der Welt nicht Hunderte Universitäten, sondern nur einen Universitätsbetrieb. Man kann sich also nicht einfach bei einer anderen Firma bewerben. Persönliche Konflikte mit dem Vorgesetzten bedeuten oft das berufliche Aus. Erst vor diesem Hintergrund versteht man die Drastik der Debatte um den Vorfall an der NYU: Das persönliche Verhalten eines Professors wird ganz selbstverständlich mit dessen Meriten aufgewogen.
In einem Bereich, der zugleich so persönlich und hierarchisch organisiert ist, müsste sexueller Gewalt, Ausbeutung und Machtmissbrauch ein besonderes Augenmerk gelten. Das Gegenteil aber ist der Fall, wenn man den allein für die USA gesammelten Zahlen der Anthropologin Karen Kelsky glaubt. Sie führt eine lange Liste von Vorfällen übergriffigen Verhaltens an Universitäten. Es geht dabei zunächst lediglich um die Dokumentation der Fälle – dass den mutmaßlichen Tätern eine Sanktion droht, ist undenkbar.
Während im Showbusiness ein Kulturwandel nötig ist, um sexuelle Gewalt einzudämmen, reicht er an der Universität nicht aus. Die Macht der Professoren muss eingehegt werden, etwa indem die Stellen der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen zugunsten von mehr Professuren reduziert werden. Erforderlich ist zudem die Begrenzung des Einflusses von Professoren auf den wissenschaftlichen Nachwuchs. Der Wissenschaftsrat fordert eine solche Beschränkung der professoralen Verfügungsgewalt schon seit vielen Jahren.
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