Es beginnt mit einem Blick in lichtdurchflutete Baumkronen. Langsam schwenkt die Kamera an Baumhäusern und Bretterverschlägen vorbei, die teilweise durch improvisierte Brücken miteinander verbunden sind. Vom Boden aus aufgenommen, wirken die Aufnahmen zwar abenteuerlich, aber auch seltsam friedvoll. Beklemmend werden sie erst durch den aufwühlenden Klangteppich, der sie begleitet. Und die Feststellung, dass sich keines der Blätter im Wind zu bewegen scheint.
Einen Schnitt später, als wieder Bewegung in das Bild kommt, offenbart sich allmählich die Tragödie hinter ihrer Entstehung. Polizisten stürmen an der Kamera vorbei, Kreischen dringt durch den Wald. Was geschrien wird, ist nicht genau zu verstehen. Man meint „Ruft einen Notarzt“ u
t“ und „Ihr seid Mörder“ zu hören. Wenig später sammelt ein Beamter die Kamera auf, fragt seine Kollegen, ob sie von „dem Kletterer“ stamme und verpackt sie in eine Plastiktüte. „Vielleicht ist da ja irgendetwas drauf“, kommentiert er noch.Eingebetteter MedieninhaltDas Erste, das Vergiss Meyn nicht zeigt, gehört zu den letzten Szenen, die Steffen Meyns 360-Grad-Kamera aufzeichnete, nachdem er am 19. September 2018, am siebten Tag der Räumung des Hambacher Forsts, in die Tiefe stürzte und starb. Der Dokumentarfilm seiner Freunde Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff wird die Frage, wer die Schuld an seinem Tod trägt, zwar aufwerfen. Sie steht allerdings nicht im Mittelpunkt. Ihr Film vereinnahmt das Schicksal des Freundes nicht für eine Sache. Stattdessen ist er eine nachdenkliche Erkundung der Sinnhaftigkeit von Widerstand – seines sinnstiftenden Potenzials und der unsinnigen Züge, die er mitunter annehmen kann. Eine, die gerade durch ihre Ergebnisoffenheit tief beeindruckt. Dafür sprechen die Regisseur*innen mit sieben Aktivist*innen, die selbst Bäume besetzten.„Ein Privileg in Deutschland ist es, dass ein menschliches Leben so ziemlich über allem steht“, erklärt einer von ihnen den Grundgedanken hinter den Waldcamps. Wolle man etwa die Sprengung einer Brücke verhindern, führt er aus, höre nun mal niemand auf einen, wenn man schlicht widerspricht. Wenn man sich aber auf ebenjene Brücke stelle, bliebe Behörden wie Betrieben nichts anderes übrig, als den Abriss abzubrechen.Was die Menschen dazu motivierte, sich mit Einsatz des eigenen Körpers den Protesten anzuschließen, gehört zu den spannendsten Einsichten, die die Einzelgespräche mit den unterschiedlich argumentierenden Protagonisten zutage fördern. Die Ausführungen reichen von dogmatisch aufgeladenen Umwälzungsfantasien über Wut über die Macht der Konzerne bis hin zur individuellen Sinnsuche. Die Frage nach dem Lebenszweck hätte sie in den Wald getrieben, erklärt eine der Aktivistinnen. Dass es doch noch andere Antworten auf sie geben müsse als die Kleinfamilie samt Kleinwagen, ergänzt sie.Der Eindruck, dass die Rettung des Hambacher Forsts für viele der Baumbesetzer*innen nicht das alleinige Ziel gewesen sein könnte, stellt sich ein. Vielmehr scheinen die Waldcamps den Rang eines Symbols erreicht zu haben: für den Unwillen, die Missstände eines neoliberalen Systems tatenlos hinzunehmen. Oder für das diffuse Gefühl, dass es ein richtiges Leben im falschen nun einmal nicht geben kann.Das widerständige Waldleben als potenziellen Gegenentwurf besser zu begreifen, dürfte ein Teil des Antriebs für Steffen Meyn gewesen sein, der mit besagter 360-Grad-Kamera ausgestattet ab Herbst 2017 immer wieder die Baumhausdörfer besuchte und sowohl Alltag als auch Aktionen begleitete. Was er dabei filmte, bildet die aufschlussreiche zweite Ebene von Vergiss Meyn nicht.Gerade weil er ihnen mit Solidarität begegnete, dürften sich die Aktivist*innen darauf eingelassen haben, dem Filmstudenten Zugang zu gewähren: Näher als Steffen Meyn kann man einer Protestbewegung kaum kommen. Anfangs zeigen die Aufnahmen seine allmähliche Annäherung. Etwa, wie man ihm geduldig die Klettervorrichtung erklärt, mit deren Hilfe sich die Bewohner*innen durch die Bäume bewegen. Man erfährt, dass sie ihre „echte“ Identität selbst voreinander geheim hielten, um Denunziationen im Falle einer Festnahme vorzubeugen. Später ist zu sehen, wie Meyn mit einer Aktivistin über die Regeln spricht, die je nach Behausung stark voneinander abweichen. Im „Paradies“-Verschlag etwa lebe man vegan und drogenfrei, sagt sie. Nachts kuschele man sich für mehr Wärme aneinander. Denn bei aller Radikalität, die man ihnen vorwerfe, versuche man im Umgang miteinander immer noch liebevoll zu sein. Besonders spannend sind die Aufnahmen stets dann, wenn sie das Ringen um den richtigen Grad an eben jener Radikalität abbilden.Fragale, Kuhlendahl und Mühlhoff stellen den Aktivist*innen auch die Frage nach der Rolle der Gewalt(-freiheit), lassen aber genauso Raum für Berichte über harsche Polizeigewalt, die sie erfahren haben. Meyn, der sich nach den gewaltvollen Ausbrüchen seitens der Protestierenden vorübergehend enttäuscht aus dem Hambacher Forst zurückzog, bebildert diese ebenfalls immer wieder in all ihrer Drastik.So ist dieser Film letztlich sowohl ein bewegendes Porträt eines verstorbenen Freundes als auch eine tiefschürfende Reflexion über die mannigfaltigen Dimensionen eines Protests, den man danach bedeutend besser zu begreifen meint.Placeholder infobox-1