Tempest also. Nicht weniger, nicht mehr als ein Sturm. Die Anlehnung an den Größten erzählt schon fast die ganze Geschichte der Kate Esther Calvert, die mit 16 Jahren ohne Abschluss von der Schule ging und sich mit ihrem Künstlernamen an William Shakespeare orientierte.
Inzwischen hat Kate Tempest ihr halbes Leben einer Poesie verschrieben, die mit innerlichen Blütenstaubzimmern so wenig gemein hat wie mit den Ermunterungsreimen einer Julia Engelmann. Tempest steht so monolithisch wie abseits in der Landschaft, und dort steht auch ihr aktuelles Album Let Them Eat Chaos – angelehnt an Marie-Antoinettes angeblichen Kommentar: „Qu’ils mangent de la brioche“, also: „Let them eat cake.“
Tempest schreibt Gedichte, Romane und Theaterstücke. Ihr eigentliches Medium ist das gesprochene Wort, ist ihre leicht zerknautschte Stimme. Sie bewohnt diese Stimme wie ein karges Apartment, man hört das schmutzige Geschirr und die verschwitzten Laken. Darin schlüpft sie in keine Rollen, schiebt keine Kulissen. Kate Tempest betreibt mit den Mitteln des rhythmischen Sprechgesangs sozialen Realismus wie unter einem Brennglas.
Ein bisschen mehr persönliche Eitelkeit hier, ein wenig tänzerische Identitätspolitik da – und wir hätten es mit dem üblichen Rap zu tun. Dabei steht sie für eine Wiedergeburt der Dichtung aus dem Geist des Hip-Hop, und die Helden der Antike dürfen mit auf die Bühne.
Kosmische Kamerafrau
Ihre Gedichte erinnerten verzückte Kritiker an Yeats oder Auden, ihr erster Roman (Worauf du dich verlassen kannst) brachte ihr Vergleiche mit Virginia Woolf ein – wobei der Plot eine Geschichte weiterschreibt, mit der ihr erstes Album Everybody Down 2014 endete. Tatsächlich war es die Musik des Wu-Tang Clan, die Kate Tempest die Welt der Worte eröffnete. Und als Poetin betrachtet sie sich erst, seit GZA vom Wu-Tang Clan sie vor ein paar Jahren so nannte.
Zum Hip-Hop im weitesten Sinne kehrt sie auch auf Let Them Eat Chaos zurück. Musik selbst setzt erst nach einigen Strophen ein. Da hat Tempest wie eine kosmische Kamerafrau bereits mit wenigen Worten einen cineastischen establishing shot inszeniert, eine Fahrt durch das Sonnensystem, an dessen Ende eine mütterliche Erde in den Blick kommt: „Picture the world. Older than she ever thought that she’d get. She looks at herself as she spins. Arm loaded with the trophies of her most successful child.“
Weiter zoomt die Kamera ein und kommt zur Ruhe in einer Straße in London. Dort liegen sieben Menschen wach, 4 Uhr 18, kurz vor der blauen Stunde. Sie kennen sich gegenseitig nicht, aber jeder Song öffnet ein Fenster in ihre Leben. Tempest erzählt so lakonisch und effizient, als wäre es eine Kurzgeschichte von Raymond Carver. Es sind sieben exemplarische Leiden – darunter Liebeskummer, Betäubung, Entfremdung, Überforderung – alles, was uns wie ein Nachtmahr auf der Brust sitzen und das Leben schwer machen kann. Die ganze Agonie unserer Spezies, eingefangen in kaleidoskopischer Vereinzelung.
Tempests wortgewaltige Zärtlichkeit gilt dabei der überforderten Mutter, die nach einer doppelten Schicht von der Arbeit kommt und keinen Schlaf findet. Sie gilt dem Betrunkenen, der daran verzweifelt, mit dem Schlüssel das Schloss zu finden. Sie gilt der Frau, die ihrer Geliebten nachschluchzt. Und sie gilt dem erfolgreichen PR-Mann, der sich selbst nicht mehr fühlen kann: „I know it’s happening, but who is it happening to? Has this happened to you?“ Ihre Wut allerdings gilt den Umständen, die sie nicht weniger scharf beobachtet und poetisch auf den Punkt bringt: „Look how the traffic keeps moving, the system is too slick to stop working“.
Jeder Charakter hat, wie in der Oper, eine eigene musikalische Signatur. Doch bleibt die Musik, anders als in der Oper, selbst im Aufbrausen noch ökonomisch. Vorwiegend elektronische Klänge sind das, federnde Beats und schillernde Arpeggien, ein wenig Hall hier, dräuender Bass dort. Dabei verhalten sich die Klänge zu den Worten, wie sich ein Score zu den Bildern eines Films verhält. Manchmal erinnert das an die klirrende Kälte einer Anne Clark, meistens aber an die Wärme von Massive Attack.
Es bleibt nicht bei Episoden und Beschreibungen, es dräut ein Sturm über London. Tempest schreckt vor Naturbeschreibungen ebenso wenig zurück wie davor, das große Vorbild zu zitieren. Ein Sturm ist nicht einfach nur ein Sturm, er ist eine Verabredung der Hexen. Und er ist eine Epiphanie. Sein Losbrechen, mit field recordings untermalt, erlöst mit seiner schieren Wucht die sieben Charaktere dieses Langgedichts aus ihrer Vereinsamung. Die Kräfte der Gier und des rasenden Kapitalismus, die Menschen in die Isolation zwingen, müssen vor einem Naturschauspiel kapitulieren.
Die sieben Unglücklichen treten auf die Straße – und erkennen sich. In diesem finalen Erkennen liegt die Hoffnung auf eine Kommunion im ursprünglichen Sinne, auf Gemeinschaft. Auf Liebe. In diesem Sinne ist dieses Album, ist dieses Gedicht von der ersten bis zur letzten Minute ein einziger Stoßseufzer.
Info
Let Them Eat Chaos Kate Tempest Caroline/ Fiction
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