"Setzen sie meinen Namen nicht darunter ..."

EUGENE ATGET Atgets Werk gilt heute als das Bindeglied zwischen den frühen Anfängen der Fotografie und den fotografischen Positionen unserer Gegenwart

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„Setzen Sie meinen Namen nicht darunter, das sind nur Dokumente." Eugène Atget

Eugène Atgets Fotos stellen soetwas wie den „Missing Link“ der Fotografiegeschichte dar; die Verbindung zwischen ordnender, beschreibender Dokumentarfotografie des 19. Jahrhunderts und einer künstlerischen – zwischen freier und angewandter Praxis changierender – Fotografie des 20. Jahrhunderts. Vor allem aber sind Atgets Fotos Zeugnisse einer radikalen Haltung gegenüber seiner Arbeit, nicht zuletzt auch gegenüber seinen Bildmotiven. In ihrer visuellen Unbedingtheit stellen diese Fotos noch hundert Jahre nach ihrem Entstehen ein so atemberaubend absolutes, einzigartiges Werk dar, dass es nichts Vergleichbares gibt.

WERK Mit der weit verbreiteten technischen Perfektion des Mediums haben diese Arbeiten rein gar nichts zu tun. Umso mehr jedoch mit menschlicher Wahrnehmung. Der Blick des Betrachters als Schlüsselelement einer einfachen, funktionalen Ästhetik der Fotografie, die die Bilder lediglich über ihre dokumentarischen Zwecke definiert. Klarer denn je sehen wir heute, 86 Jahre nach dem Tod des Fotografen, in diesen Bildern das kolossale Werk eines politisch links stehenden Künstlers. Durch aufmerksames Hinschauen, durch Neugier und Interesse an der Kultur der unteren Schichten wurde er zu ihrem Zeugen und Bewarer. Mit seinem unvoreingenommenen, dokumentarischen Auge schuf Eugène Atget unmittelbare, visuelle Dokumente einer in Auflösung begriffenen Kultur, die bis heute keine Stimme hat.

GEBOREN 1857 in Libourne, Frankreich, als Sohn eines Wagenbauers, wurde Eugène Atget zuerst als Schauspieler ausgebildet. Erst spät – nachdem er sich vorher noch vergeblich bemühte seinen Lebensunterhalt als Maler zu verdienen – kam er zur Fotografie. Als „Fotograf des Alten Paris“ ging er dann mit seinem archivarisch angelegten Werk der Dokumentation städtbaulicher Veränderungen von Paris zwischen 1897 und 1927 in die Geschichte ein.

KONZEPT & ARBEITSWEISE Die Unvoreingenommenheit mit der Eugène Atget sich seinem Werk widmete erlaubte ihm eine eigenständige, außergewöhnlich moderne Arbeitsweise, die heutigen künstlerischen Positionen sehr viel näher ist als denen seiner Zeitgenossen. Sein freies, experimentelles Herangehen an das Fotografieren ist denn auch Lichtjahre von dem unter Fotografen so verbreiteten Hang zur Perfektion entfernt.

Für andere undenkbar, ließ Atget die Spuren des Entwicklungsprozesses – der Rahmenklammern seiner Entwicklungsboxen –, einfach stehen. Sie störten ihn nicht, gehörten für ihn zum Bild. Diese unbefangene, leidenschaftliche Arbeitsweise erlaubte es Atget die Fotografie ganz neu zu definieren und Bildmotive frei für sich zu entdecken. Gleichwohl verstand sich Eugene Atget nicht als Künstler sondern als Dokumentarist. Der Zweck seines Fotografierens war für ihn vor allem ein gewerblicher.

Eugène Atget arbeitete an der Erschaffung eines riesigen, potenziell unbegrenzten Bildarchivs. Die Radikalität in Atgets Werk liegt vor allem in der Entschiedenheit, mit der er diesen archivarischen Gedanken fotografisch umsetzte. Besonders deutlich wird dies, wenn man nicht nur die Fotos und Bildmotive betrachtet. Beziehen wir beispielsweise die unkonventionellen Lebensumstände, den Umgang mit dem eigenen Werk, oder auch das Ordnungs- sowie das ganz eigene, ausgeklügelte Archivierungssystem für seine mehr als 17.000 Fotos in die künstlerische Praxis mit ein, so begegnet uns hier eine verblüffend unangepasste, künstlerische Position.

Auch die handwerkliche Mischung aus privatem und geschäftlichem ist charakteristisch für Atgets entschiedene Verfahrensweise: Der Selbstvertrieb seiner Bilder im kleinen häuslichen Atelier; zusammen mit seiner zehn Jahre älteren Partnerin und Lebensgefährtin, der Schauspielerin Valentine Delafosse Compagnon. Sie war Eugène Atgets einzige Assistentin und Mitarbeiterin, lebenslang. Bei dieser kompromisslosen künstlerischen Haltung zu Leben und Werk ist es kein Zufall, dass Atgets Vorgehensweise für zukünftige Generationen von Künstlern und Fotografen wegweisend sein sollte.

TECHNIK & KOMPOSITION Eugène Atget hatte eine Ausrüstung, die von Anfang an nicht dem neuesten Stand der Technik entsprach. Er verwendete zum Fotografieren eine Holzkamera älteren Typs und die damals üblichen 18 x 24 cm Glasnegative. Seine Ausrüstung samt Belichtungskassetten und Stativ wog etwa 20 Kilo. Ein Gewicht, das ihn also auf seinen Streifzügen zu Fuß durch die Stadt überall hin begleitete. Um spannungsreiche, stark räumliche Kompositionen zu schaffen verwendete Atget kurze Brennweiten. So entstanden dramatische, perspektivische Fluchten im Bildraum. Oft nahm er die Gebäude und Straßenmotive aus einem schrägen Winkel auf. In den Bildkompositionen ergeben sich auf diese Weise keine horizontalen, parallelen Linien. Die menschlichen Figuren sehen aus als seien sie Teil der Architektur. Das wichtigste formale Element seiner Fotos ist der Bildausschnitt. Ein wiederkehrender Aspekt in Atgets Arbeitsweise ist der virtuose Umgang mit Licht, das spannungsvolle Nebeneinander von Licht und Schatten. Immer wieder finden sich in den Bildern aber auch rätselhaft melancholische Spuren von Verwandlungen, Übergängen, Zeichen der Vereinigung von Zivilisation und Natur. Reflexionen aus der Außenwelt und Innenwelt überlagern sich, werden zum Vexierbild.

REZEPTION Walter Benjamin hat Eugène Atget als Vorläufer der Surrealistischen Fotografie gewürdigt. Und, obwohl Man Ray allgemein als Entdecker Eugène Atgets gilt, distanzierte er sich mit Atgets zunehmender Bekanntheit von dem Kollegen. Vor allem kritisierte Man Ray Eugène Atgets "mangelnde intellektuelle Herangehensweise" an die Fotografie. Im Nachhinein war Atget für den kunstbeflissenen Man Ray wohl nicht viel mehr als ein einfacher fotografischer Handwerker. Es ist deshalb vor allem Man Rays Assistentin, der Fotografin Berenice Abbott zu verdanken, dass ein Großteil der Arbeiten erhalten geblieben sind. Ab 1925 besuchte sie den alten Fotografen regelmäßig in seinem Atelier. Um ihn finanziell zu unterstützen kaufte sie ihm nicht nur von ihrem knappen Gehalt Abzüge ab, vielmehr organisierte sie auch zahlreiche Verkäufe an befreundete Künstler und Sammler. Nach seinem Tod sicherte Abbott, zusammen mit dem Filmemacher Julien Levy, einen Teil von Eugène Atgets Archiv und sorgte dafür, dass zusammenhängende Serien der Arbeiten neben jungen zeitgenössischen Photografen ausgestellt wurden.

„Nicht umsonst hat man Aufnahmen von Atget mit denen eines Tatorts verglichen. Aber ist nicht jeder Fleck unserer Städte ein Tatort? Nicht jeder ihrer Passanten ein Täter?“

„Diese Leistungen sind es, in denen die surrealistische Photographie eine heilsame Entfremdung zwischen Umwelt und Mensch vorbereitet. Sie macht dem politisch geschulten Blick das Feld frei, alle Intimitäten fallen zugunsten der Erhellung des Details.“ Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Fotografie

Mit seinem Werk hat Eugène Atget eine Bilderflut hinterlassen, ein detailliert archiviertes Konglomerat komplexer, differenzierter Wahrnehmungen gebannt aus dem Fluß der Zeit. Flüchtige, im Negativ fixierte Augenblicke, galvanisierte Spuren, Verwandlungen aus Licht und Schatten einer versunkenen Zeit. Sie eröffnen den Einstieg in ein geordnetes Archiv des Vergangenen, aber auch den Weg zu einer Fülle von alltäglichen Zufäligkeiten.

Photocredits: Commons | George Eastman House

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Geschrieben von

silvio spottiswoode

»Ohne Griechenland kann man Europa umbenennen, etwa in Horst.« (Nils Minkmar)

silvio spottiswoode

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