Seit dem 12. März sind Polen, Tschechien und Ungarn Mitglieder der NATO - mit Slowenien, Kroatien, Rumänien und der Slowakei sollen weitere ostmittel- und südosteuropäische Länder folgen. Es scheint, daß die militärischen Apparate der ehemaligen Blöcke sich rascher anzunähern vermögen als die zivilen Gesellschaften und Volkswirtschaften.
Was immer man von der Rolle der NATO, ihren Strukturen und Konzeptionen halten mag, die Orientierung auf den »Westen« wurzelt schon in der Geschichte der drei Beitrittsländer. Gerade Polen und Tschechen haben in diesem Jahrhundert die Auslöschung ihrer nationalen Souveränität durch Nazideutschland erfahren müssen. Kein Wunder, daß der tschechische Senats präsident
ts präsident Petr Pithart in diesem Zusammenhang vom »38er-Trauma« spricht, eine Erfahrung, der gegenüber auch die sowjetische Invasion von 1968 zurücktritt. Die Okkupation des Sudetenlandes durch Hitler 1938 leitete die Zerschlagung der Tschechoslowakei ein. Der Prager Historiker Václav Kural meint, daß diese Region im Spannungsfeld zwischen Deutschland und Rußland beziehungsweise der UdSSR im 20. Jahrhundert mehrfach einschneidenden Veränderungen unterworfen war; es existiere daher ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Sicherheit. In Polen besteht eine ähnliche Interessenlage, wenngleich hier seitens der Rechten größere Widerstände gegen eine Mitgliedschaft in der NATO wegen der vermeintlichen Gefahr für die nationale Identität zu beobachten sind. In Ungarn stehen geopolitische Aspekte im Vordergrund, man möchte sich, angetrieben durch den Krieg um das Kosovo, gegen den Konfliktherd Südosteuropa abgrenzen und sucht als »Frontstaat« den Schutz Westeuropas und der USA. Aufschlußreich ist dabei, daß von ostmitteleuropäischen Intellektuellen und Politikern - bei aller Anerkennung für die positive Entwicklung der BRD nach dem Krieg - doch ein Mißtrauen gegenüber einer zu dominanten Position Deutschlands besteht. Durch den NATO-Beitritt - heißt es vielfach - könne deutscher Einfluß relativiert werden. So überwiegt in den drei Ländern die Akzeptanz der NATO, trotz des Wissens, daß die Anpassung an die Standards der Allianz schon jetzt wachsende Militäretats zuungunsten anderer Ressorts nach sich zieht. Dagegen nimmt die Euroskepsis allgemein zu, nachdem sich die oft illusionistischen Erwartungen in die Segnungen des Kapitalismus nicht erfüllt haben.Mit dieser alles beherrschenden Westorientierung wurden ältere gemeinsame Strukturen, die mittels der CEI (Zentraleuropäische Initiative oder Visegrád-Abkommen zwischen Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn 1991) erneuert werden sollten, aus nationalem Egoismus und aufgrund einer gewissen Engstirnigkeit der neuen politischen Eliten aufgegeben. Der Visegrád-Prozeß, der als »Gegengift zu den kleinen Nationalismen« gedacht war, galt nach der Abwicklung des RGW (*) und dem Abzug der sowjetischen beziehungsweise russischen Truppen als ein »toter Hund«. In Prag gab es sogar eine Weisung des Außenministeriums, den Begriff »Visegrád« offiziell nicht mehr zu verwenden.Die CEI war noch aus dem Geist der Mitteleuropa-Debatte der achtziger Jahre entstanden, wie sie in der polnischen, tschechoslowakischen, ungarischen und jugoslawischen Opposition geführt wurde. Sie war die intellektuelle Schiene, die zur »Delegitimierung der imperialen Herrschaft der Sowjetunion« (Joscha Schmierer) in den Ländern Ostmitteleuropas beitrug. Ihre »antipolitischen« Vordenker waren György Konrád, heute Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie, und Tschechiens Präsident Václav Havel. Als politische Perspektiven - im Westen wegen der vermeintlichen Ferne zur Realpolitik oft belächelt - galten die Herauslösung Mitteleuropas aus der sowjetischen Hegemonie, verbunden mit Vorstellungen einer »Finnlandisierung«, die Entmilitarisierung der Gesellschaft, die Rückkehr zu rechtsstaatlichen Standards und in einen europäischen Kulturkreis.Doch das überschäumende Tempo der Wende und der Wildwuchs des kapitalistischen goldrush verdrängten bald alle philosophischen und ethischen Überlegungen dieser Debatte - was kam, stellt sich für viele Intellektuelle in der Region selbst, aber auch darüber hinaus heute in einem idealisierenden Subtext als »Vernichtung Mitteleuropas« dar. Man gründete zwar Parteien, richtete Gerichte ein, hielt Wahlen ab, ließ sich von Wirtschaftshaien bestechen - kurz, die meisten MOE-Staaten entwickelten sich nicht nur als »freie Marktwirtschaft ohne Wenn und Aber«, sondern auch als parlamentarische Demokratien. Aber die Solidarität der durchweg schwachen Länder war schlagartig verschwunden. Jeder für sich und jeder gegen alle wurde zum Motto des Wettlaufs nach Europa, hinein in die euro-atlantischen Strukturen der NATO. Rudolf Chmel, Professor an der Akademie der Wissenschaften in Bratislava, damals tschechischer Botschafter in Ungarn, erklärte unlängst, der konservative Premier Václav Klaus habe alles auf die Karte des individuellen Beitritts zur EU gesetzt, sein Außenminister habe einmal dezidiert geäußert, man könne ohne das Anhängsel Slowakei rascher vorankommen.Wurde die Politik nur noch dominiert von populistischen Nationalisten und exkommunistischen Kadern, schwer unterscheidbar oft die einen von den anderen, beide bereit zu einer auch vor Kriegen nicht zurückschreckenden Macht- und Unterwerfungspolitik?Es gibt zweifellos große Probleme in Ostmitteleuropa. Der Umbau der Volkswirtschaften stagniert, das soziale Gefälle hat beunruhigende Ausmaße angenommen. Oft scheinen auch die demokratischen Standards eher dekorativer denn substantieller Natur: Nur in einem beschränkten Maße sind neue politische Eliten entstanden, doch sie haben wenig Profil, sind oft borniert, manchmal offen für Rassismus, national oder regionalistisch beschränkt, kapseln sich gegenüber den Nachbarn ab. Bilanz: zu wenig für zehn Jahre.Nichtsdestotrotz haben in Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Slowenien inzwischen zwei oder drei nationale Wahlen stattgefunden, bei denen entweder eine Regierung bestätigt oder ohne Zwischenfälle abgewählt wurde. In Ungarn gab es erst eine konservativ-bürgerliche Regierung unter Antáll, dann den Wechsel zu den Sozialisten unter Horn und jetzt wieder eine Mitte-Rechts-Regierung. In Tschechien und in der Slowakei wurden die Nach-Wende-Regierungen durch die Sozialdemokraten beziehungsweise ein breites Bündnis von christdemokratischen bis hin zu linkssozialdemokratischen Kräften abgelöst. Polen wußte bereits zwei Rochaden (**) zu meistern. Die Slowakei hat - wie es heißt - ihre »Wiederholungsprüfung in Sachen Demokratie« bestanden; oft wird die Abwahl des politisch ungeschlachten Vladimir Meciar sogar zur »eigentlichen Wende« erhoben.»Totgesagte leben länger«, das heißt intensivierte Beziehungen der MOE-Staaten schließen die Möglichkeit ein, auch den Visegrád-Prozeß zu revitalisieren. Mit dem NATO-Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns wird dabei die Slowakei besonders gefordert sein. Dies entspringt einem simplen geostrategischen Faktor: die Ostgrenze des Bündnisses ohne die Slowakei verlängert sich um 1.500 Kilometer, während die slowakische Ostgrenze zur Ukraine bloß 90 Kilometer beträgt. Vor allem aber wird die Slowakei wieder im verstärkten Maß als Partner betrachtet.Sowohl auf politischer als auch auf kultureller Ebene nehmen die multilateralen Kontakte wieder zu, bisweilen wird auf Konzeptionen über Mitteleuropa als Wertegemeinschaft, als multikulturelle Vielfalt und so weiter zurückgegriffen, zugleich sind die Europabilder realistischer geworden. Die Osterweiterung wird - im Gegensatz zur in Deutschland gängigen Sichtweise - nicht als eine quantitative Erweiterung aufgefaßt, sondern als qualitative Veränderung, als Bereicherung der Allianz. Das muß freilich der Westen noch begreifen.(*) Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, multilateraler Wirtschafsverbund der sozialistischen Länder.(**) Nach dem 1993 die postkommunistische Sozialdemokratie der Republik Polen eine konservative Regierungsära beendet hatte, kam im September 1997 wieder eine Rechtsregierung aus Wahlaktion Solidarnosc und Freiheits union an die Macht.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.