Nehmen wir eine Karte von Mitteleuropa. Rechts draußen vor der Randlinie befinden sich noch ein paar Fetzen von Weißrussland und der Ukraine darauf. Abgestürzt hinters Jenseits des Kartenrandes sind das östlichere Ostgalizien und die Bukowina, Platz finden gerade noch Lemberg/L´viv/Lwow und das Gebiet südlich davon, oder andersherum, nördlich der Waldkarpaten mit Städten wie Sambor, Borislaw, Drogobych/Drohobycz. Können Sie folgen? Wir befinden uns hier östlich vom südöstlichen Polen oder nordöstlich von der östlichen Slowakei, jenseits des Karpatenbogens, der gerade abgeknickt ist, hinunter nach Süden, nach Rumänien. Verlassen Sie sich nicht unbedingt auf die Straßenkarten, die haben hier nie gestimmt. Sc
Die Rückkehr zum Kind
WIRKLICHKEIT IST MEHR ALS REALITÄT Drohobycz, die Heimat des Dichters und Traumtänzers Bruno Schulz im vergessenen Europa
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Schon die Habsburger Monarchie war großzügig im Erfinden von Verkehrswegen, im Weltrieg Eins sollte sich das als Nachteil erweisen. Aber Sie können auch die Eisenbahn nehmen, von Berlin nach Warschau, umsteigen nach Przemysl, umsteigen nach Lemberg, umsteigen nach Stryj, umsteigen in die Transversalbahn nach Sambor, aussteigen in der Zwiebelstadt Drohobycz. Wie, Sie können nicht auf Ihre Freiheit verzichten, doch mit dem Lamborghini? Na schön, auf der M 17 von Lemberg Richtung Berge und wieder bei Stryj rechts ab ins galizische Pennsylvanien. So sagte man früher, als hier Öl geschürft wurde, schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts; da wollte die Stadt Prag ihre Lampen mit dem Drohobyczer Leuchtöl erstrahlen lassen. Aber die Verkehrswege! Viel später brach der große Boom aus, rüttelte die Stadt aus ihrer kakanischen Schläfrigkeit, stürzte sie plötzlich in eine Goldgräberstimmung, denn das Geld, sagte man, lag ja auf den Äckern, in manchen Wiesenlöchern rann das Öl von selbst zusammen. Reich wurden nur wenige - arm, bitter arm blieben die meisten, die Arbeiter in den Bohrungen, die sich vielfach aus den einheimischen Juden rekrutierten und buchstäblich bis aufs Blut ausgebeutet wurden. Plötzlich prallte auf die betuliche alte Zeit eine ganz andere, neue Zeit, eine erbarmungslose Zeit. Um die Jahrhundertwende lag Galizien hinter der USA, Russland und Niederländisch-Indien an vierter Stelle der Weltproduktion von Erdöl.In diese aufgeregte Atmosphäre wird 1892 Bruno Schulz geboren, drittes Kind einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Der Vater, der ein Seiden- und Textilgeschäft in guter Lage, jedoch in argen Nöten betreibt, zählt, wie viele andere der traditionellen jüdischen Bürgerschaft, zu den Verlierern im Kampf gegen den brodelnden Fortschritt, ausgelöst durch den Ölboom. Er stirbt früh und hinterlässt eine verarmende Familie.Der Knabe ist zart, introvertiert und menschenscheu, früh äußert sich seine Fantasie in seinem bildnerischen Talent. Ein Architekturstudium in Lemberg schließt er wegen Geldmangel nicht ab und wird Zeichenlehrer in Drohobycz. Mit Ausnahme eines zweijährigen Aufenthalts in Wien, Reisen nach Zakopane, Kraków, Lublin und Warschau und einer Reise nach Paris hat er das Provinzstädtchen nie verlassen, er fühlt sich "mit Drohobycz verwachsen", wie er in einem Brief schreibt - obwohl er dieser labyrinthartigen Kleinstadt, "ihren dunklen Häusern mit leerer und blinder Fassade" keinen Liebreiz abgewinnen kann. "Die Tage waren hart geworden vor Kälte und Langeweile wie vorjährige Brotlaibe", schreibt er über die Winter in der Stadt und beklagt oft in Briefen das Fehlen jeglicher Ansprache. Er schreibt Briefe um mit Gleichgesinnten zu sprechen. Er schreibt unglaublich schöne Briefe. Darin erzählt er von seinen Tagträumen, wenn er in diese Gassen voller Langeweile hineingeht, auf der Suche nach den verschollenen Zimtläden eine verborgene Tür öffnet, dem Gestank des Öls und Paraffins entflieht und seine Traumwelten aufzeichnet."In einer solchen Nacht ist es unmöglich, über den Wallgraben oder durch eine andere der dunklen Gassen, welche die Rückseite, das Futter sozusagen der vier Linien des Ringplatzes bilden, zu gehen, ohne sich in Erinnerung zu bringen, dass zu dieser nächtlichen Zeit bisweilen noch einige jener sonderbaren und so verlockenden Läden geöffnet sind, die man tagsüber gewöhnlich vergisst. Ich nenne sie die Zimtläden wegen der dunklen Tönung des Holzes, mit dem sie getäfelt sind. (....)Schwach beleuchtet, dunkel und feierlich schwelgten ihre Eingeweide in dem tiefen Geruch von Farben, Lack, Weihrauch, dem Aroma ferner Länder und seltener Materialien. Du konntest dort bengalisches Feuer, Zauberkistchen, Briefmarken längst verschwundener Länder, chinesische Abziehbilder, Indigo, Kolophonium aus Malabar, Eier exotischer Insekten, Papageien, Tukane, lebende Salamander und Basilisken, Alraunenwurzeln, Nürnberger Mechanismen, Homunculi in Blumentöpfen, Mikroskope und Fernrohre und vor allem seltene und seltsame Bücher, alte Folianten voll wunderlicher Stiche und betäubender Geschichten finden."Banalität und Langeweile der Altstadt löst Schulz in fantastischen Metamorphosen auf. Doch an diese Orte alter Geheimnisse drängen die "neuzeitlichen, nüchternen Formen des Kommerzialismus" heran. Die rasch wachsenden Vorstadtviertel repräsentieren den Boom, die Neuzeit, die Errungenschaften des modernen Lebens, den Wertewandel, die Glücksritterei, das neue Elend. Die Krokodilsgasse, so der Titel einer Erzählung, verkörpert das andere, das neue Gesicht der Kleinstadt. Der Gewerbedistrikt - auf einer alten Karte gleichsam wie für ein unerforschtes Gebiet noch ein weißer Fleck - entwickelt sich mit dieser zentralen Gasse zu einem "schmarotzenden Viertel". Schulz skizziert den "Pseudoamerikanismus", der von hier aus immer mehr auf die Stadt übergreift, wobei er die reale Umgebung als durchscheinende Folie für die Installationen seiner Imagination einsetzt. Wenn er dann einen Laden betritt, analog den Zimtläden, einen Tuchladen vermeintlich, um sich einen Anzug schneidern zu lassen, transformiert nicht nur das Geschäft in die seltsame Zwischenform eines - sagen wir - Entspannungssalons, es könnte auch ein Bordell sein. Verlässt der Erzähler dann den Laden, wird er ihn nicht mehr finden, wohl aber tausend andere dieser Sorte. Die Moderne produziert gesichtslose Massenware, die Serialisierung von Dingen, angedeutet wird auch die von Menschen. Schulz, der Kulturpessimist, stellt zwar melancholisch die "Rückkehr zum Kind" als große Aufgabe fest. Aber er kehrt nicht mehr zurück in die alte Zeit, denn er weiß, diese Viertel, die sich ins Fleisch der Städte fressen, vernichten auch die Zimtläden, die traditionelle Welt seines Vaters, dieses "Fechtmeisters der Einbildungskraft", der "gegen das Element der Langeweile, das die Stadt erstarren ließ, Krieg führte". Ihm hat der Sohn, Rilke-Liebhaber und Kafka-Übersetzer ins Polnische, ein literarisches Denkmal gesetzt.Bruno Schulz, in der Zwischenkriegszeit in einem Atemzug mit Gombrowicz und Witkiewicz genannt, hat weit mehr geschrieben, gemalt und gezeichnet, als erhalten geblieben ist. Seine pessimistische Sicht der gesellschaftlichen Entwicklung bestätigt sich in tragischer Weise. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt fällt Ostgalizien zunächst an die Sowjetunion, im Juni 1941 marschieren die Nazis in Drohobycz ein.Was für diese Region mit starkem jüdischen Bevölkerungsanteil die Okkupation durch Hitler-Deutschland bedeutet, vermittelt Hendryk Grynbergs dokumentarische Prosa, die auf den Erzählungen Überlebender beruht. Der Bogen dieser Lebensläufe spannt sich von Litauen hinunter bis in die Ukraine, es sind Stimmen jener wenigen, die Ghettos und Vernichtungslager des Nationalsozialismus überlebt haben. Auch die Bedrohung anderer Nachbarn, Ukrainer, Polen, Litauer, nicht zuletzt der stalinistischen Sowjetmacht kommt in den Berichten dieser oft einfachen Menschen zur Sprache. Ein Segment des Buches bildet Drohobycz und der Nachbarort Boryslaw. Namen, Orte, Berufe, Familienverhältnisse, kleine Anekdoten bilden ein Geflecht, Bruno Schulz taucht in einer Biografie als Zeichen-, später auch als Mathematiklehrer auf. Als nach den Russen die Deutschen kommen, werden alle bisherigen ethnischen Widersprüche und antisemitischen Verhärtungen ein bescheidenes Vorspiel der nun einsetzenden Todesmaschinerie. Schulz scheint zunächst Glück zu haben, er verfügt als Maler eines SS-Mannes über gewisse Privilegien. Im November 1942 wird er auf offener Straße von einem Gestapomann ermordet - ein alltägliches Ereignis. In den Massengräbern des Viertels Bronica werden 12.000 Leichen verscharrt, Tausende andere in die Todesfabriken abtransportiert.Der italienische Journalist Ugo Riccarelli hat die Lebensgeschichte von Bruno Schulz zum Thema eines Romans, genauer, einer fiktiven Autobiografie gemacht. Allerdings gibt er mit der Ich-Form eine Authentizität vor, die er niemals einlösen kann. Er hält sich an einen linearen und straffen Handlungsstrang, während man bei Schulz selten eine konsequent durchgeführte Handlung findet. Zudem steht Riccarelli machtlos einem vielschichtigen Dichter gegenüber, der sein Selbstbildnis wohl reichlich mit Traumgebilden, Visionen und sprachlichen Fantasien ausgestaltet hätte. Unbeantwortet bleiben zentrale Themen wie das eigentümliche Verhältnis zwischen Sohn und Vater, das in gewisser Weise an Kafka erinnert, wie überhaupt die Auseinandersetzung mit Kafka nicht einmal angedeutet wird. Mit der Schlussszene entgleitet dem Autor vollends sein Stoff. Nahezu ungerührt schildert er, wie das so ist, im Dreck, einen Gestapomann über sich, eine Pistole an der Schläfe, und schließt: "Das war mein Leben." Wessen Leben? Und wo bleibt das Vogelunternehmen des Vaters? Wo bleiben die Zimtläden? Wo das Briefmarkenalbum mit den exotischen Marken? Die Wirklichkeit besteht eben nicht nur aus Realität.Wenn Sie heute nach Drohobycz fahren, werden Sie sich wahrscheinlich fragen, wie jemand diesen tristen Ort so fantastisch ausgestalten konnte. Sie werden über die miserablen Straßen fluchen, über das Hotel Tulstan die Augenbraue hochziehen, an Ihren westbewährten Maßstäben prallt die landesübliche Freundlichkeit ab. Die Stadtrundfahrt bietet eine Reihe weiterer Klischees, da hebt sich eine Reklametafel für Schokolade mit Speck noch wohltuend erheiternd ab. Natürlich finden Sie keine Gedenktafel für den großen Dichter, lediglich im Heimatmuseum stoßen Sie auf ein Bild von Bruno Schulz. Vielleicht haben Sie den Ausschnitt aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 14.10.2000 bei sich, Rolf Fieguth schreibt darin über die Stadt feinfühlig als "Seelenort der Weltliteratur". Aber mit der Vernichtung der Juden hat das Deutsche Reich auch dieser Stadt die Seele heraus gerissen. Danach kam die Neuvermessung der Grenzen, die Homogenisierung der Bevölkerung, heute ist Drogobych eine ukrainische Stadt. Im lokalen kollektiven Gedächtnis hat Bruno Schulz, der als Jude in polnischer Sprache schrieb, keinen Platz. Kaum etwas erinnert an ihn, kaum etwas erinnert an die Juden, die so lange das Bild der Stadt prägten. Der "Seelenort" ist in das Exil der Dichtung verbannt. Und in der politischen Realität gilt für diese Region nicht einmal ein "Zurück nach Europa", denn die Nachkommen jener, die für die Katastrophe verantwortlich waren, scheinen es mit dem Erinnern wieder einmal nicht so genau zu nehmen. Der wirkliche Bruno Schulz ist ein europäischer Dichter, aber was geht uns schon die reale Ukraine an...Bruno Schulz: Gesammelte Werke. Band 1: Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen. Band 2: Die Wirklichkeit ist Schatten des Wortes. Aufsätze und Briefe. Hrsg. von Jerzy Ficowski. Aus dem Polnischen von Mikolaj Dutsch und Josef Hahn. Carl Hanser Verlag, München 1967 (1992). 88,- DM.Eine Neuauflage der beiden Bände ist im September 2000 bei dtv München erschienen, dtv 12821 und 12822, gemeinsam mit dem Band: Das graphische Werk. dtv 12823. 144 S., 30,- DM. Ugo Riccarelli: Ein Mann, der vielleicht Schulz hieß. Roman. Aus dem Italienischen von Sylvia Höfer. C.H.Beck Verlag, München 1999, 192 S., 34,- DM. Henryk Grynberg: Drohobycz, Drohobycz. Zwölf Lebensbilder. Aus dem Polnischen übersetzt und mit einem Nachwort von Martin Pollack. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2000. 344 S., 39, 80 DMMartin Pollack: Nach Galizien. Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen. Eine imaginäre Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina. Edition Christian Brandstätter, Wien-München 1984, 208 S.
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