Vierzehn Tage neue Regierung - und schon wird Radovan Karadzic´ in Belgrad festgenommen. Ein Erfolg der merkwürdigen Allianz zwischen Tadic´-Demokraten und Miloevic´ -Sozialisten, allen zweifelhaften Umständen zum Trotz. Denn es ist kein Geheimnis, dass bisher eine Reihe öffentlicher Persönlichkeiten Beihilfe zur Fluchthilfe geleistet hatten, darunter auch der ehemalige Präsident Vojislav Kotunica. Anfang dieses Jahres äußerte sich im unabhängigen Belgrader Radiosender B 92 in einem Ende September 2007 aufgenommenen Interview Djindjics Geheimdienstchef Goran Petrovic´ zu den "mutmaßlichen Kriegsverbrechern": "Als ich 2001 den Sicherheitsdienst leitete, konnten wir erstaunlich schnell den Aufenthaltsort von Ratko Mladic´ und noch etwa zehn weiteren gesuchten Angeklagten ausfindig machen. ... Der SD kann Mladic´ im Prinzip aufspüren, das Problem ist nur, dass es dieselben Beamten tun müssten, die bisher die längste Zeit seine Fluchthelfer waren. 2001 hatte Vojislav Kotunica über den von Miloevic´ hinterlassenen Zustand der Armee alles gewusst, und war damit einverstanden, dass eine staatliche Institution einem flüchtigen Angeklagten Unterschlupf gewährt." Über Mladic´ berichtete Petrovic´: "Mladic´ feierte die Hochzeit seines Sohnes im Hotel Jugoslavija, und der militärische Abschirmdienst und der SD sorgten für die Sicherheit; für die war das größte Problem, die Gäste zu überzeugen, doch keine Fotos von den Anwesenden zu machen. Es ist also kein Problem, sich zu verstecken, wenn einem der Staat die Hochzeit ausrichtet und seine Dienste für die Sicherheit sorgen." Petrovic´s Meinung nach geht die Festnahme recht einfach: Aufenthaltsort erkunden, verhaften, ausliefern.
Petrovic´ selbst verlor bald seinen Posten aufgrund des Drucks von Führern des mit Teilen der politischen Klasse und hohen Offizieren klandestin liierten organisierten Verbrechens. Milorad Ulemek, genannt Legija, Chef der "Roten Barette", offiziell die Leibwache des Präsidenten, machte Dampf bei Kotunica und erreichte die Absetzung des Outsiders. 2005 erhielt Ulemek für einen Sack voller Schandtaten - Mitbeteiligung an der Ermordung des Premierministers Zoran Djindjic´, Auftragsmord am früheren serbischen Präsidenten Ivan Stambolic´ und weitere Morde - vierzig Jahre Zuchthaus. "Befehlsnotstand": die Morde habe er in Miloevic´s Auftrag durchgeführt.
In diesen Geschichten wird einiges von der serbischen Tragödie deutlich. Und die serbischen Medien, ob Politika, Vec´ernje Novosti mit Karadzic´-Klatsch oder RadioFocus mit seinen radikalen Hasspredigten sind Waschküchen mit Trögen voll echter und erfundener Skandalgeschichten aus Politik und Kriminal. Allerdings bietet die Realität seit Jahren jede Menge Nachschub. Ob Auftragsmord, Menschenhandel oder Drogengeschäfte - die "serbische Mafia" ist europaweit bekannt. Sie ist ein Netzwerk aus zahlreichen Personen aus allen Sparten des Staatsapparats und dem organisierten Verbrechen. Rechtsstaatlichkeit ist ein Fremdwort. Eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft fühlt sich diesen Machenschaften gegenüber ohnmächtig. Aber es ist auch ein reizvolles Thema, wie man schnell zu Geld und um den eigenen Kopf kommt. Die Medien bedienen in hohem Maße Ohnmacht und Bedürfnis nach Unterhaltung einer vielfach verarmten Bevölkerung über "die da oben" - eine alte Tito-Rhetorik - und deren Winkel- und Schurkenzüge. Djindjic´ und Petrovic´ wollten in diesem staatlichen Augiasstall "aufräumen" - der eine wurde "weggeräumt", der andere auf die Seite geschoben.
Seit fast zwanzig Jahren lebt Serbien in einem eigenartigen Zustand. Boidar Djelic´, der neue Minister für Wissenschaft und Technologie, bringt es mit seinem Drängen hin zur EU zum Ausdruck. Es mag sein, meinte er vor einer Woche, dass das Land das eine oder andere Datum nicht ganz erreichen werde, aber es sei wichtig, dass es eine klare Zielsetzung hatte, dass es auf sein Ziel, auf Europa zugehe, denn es habe schon zu viele Jahre versäumt.
An Beschwörungen mangelt es nicht: Immer wieder liest man von kritischen Intellektuellen, Serbien müsse sich endlich seine Niederlage eingestehen (Rajko Danilovic´, Djindjic´s Anwalt); es müsse endlich aufhören, immer wieder in die selbst gestellten Fallen seiner schrecklichen nationalen und nationalistisch interpretierten Mythen zu gehen (Ivan C´olovic´, Ethnologe); es müsse eine rationale Auseinandersetzung mit seinem mörderischen Heroismus führen, mit dem Irrglauben von Feinden umzingelt zu sein (Sonja Biserko, Historikerin); das Land müsse im 21. Jahrhundert ankommen, eine normale moderne Gesellschaft werden, eine normale Demokratie mit einem normalen Staat (Nikola Samardzic´, Historiker).
Für andere Kritiker hingegen ist Serbien "ein Fahrzeug der nullten Art". Der 1932 in Zagreb geborene und in Belgrad aufgewachsene Schriftsteller Bora C´osic´ hat einmal wunderschön böse und lebensfrohe Satiren auf diese Verhältnisse in seinem berühmten Büchlein Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution abgelassen. Dreißig Jahre später aber schreibt er in einem letzten Buch Das Land Null (Freitag 42/2004) von einer Person, die sich belagert fühlt in einem Land, das verrückt spielt. Es kommen darin Magazine voll mit Dingen vor, die bei Verhaftungen und Deportationen eingesammelt wurden; ein von Bombardierungen halbiertes Haus, umstellt, als monotoner Wartesaal der Geschichte. Das Land will C´osic´ nicht mehr beim Namen nennen. Aber eine Filmmetapher gibt es bei ihm für die Bevölkerung, über das Glück des Endes, "wenn die Hauptfiguren gerettet, glücklich verheiratet oder gehenkt sind, wie sie es verdienen. Denn dem kleinen Geschöpf, das in dieses Kino, dieses Weltkino, geraten ist, ist es gleichgültig, wie die Geschichte auf der Leinwand enden wird, Hauptsache man lässt es aus dem finsteren Bereich raus ans Tageslicht." Raus aus dem nullten Film.
Der Hardcore-Nationalismus der eeljs und Nikolic´s oder der weichgespülte Kotunicas - beide Varianten sind Serbiens Verhängnis. Der Machiavellist Miloevic´ hat sich dieser Ideologie bedient, die in vielen Köpfen der Sozialisten ganz selbstverständlich nistet. Es ist eine Ideologie von der besonderen Sendung der Serben, die immer ausgeht "von der flächendeckenden Unterdrückung serbischer Äußerungen auf allen Gebieten". So beschrieb es der "berühmte" Historiker Vasilje Krestic´, Mitverfasser des 1986 veröffentlichten Memorandums der Akademie der serbischen Wissenschaften Wurzeln des serbischen Nationalismus. Darin sind die zentralen Thesen der serbischen Nationalisten zusammengefasst. Von den anderen Republiken Jugoslawiens wurde das seinerzeit als Kriegserklärung aufgefasst. Er hat die serbische Militanz grundlegend legitimiert. In seinem letzten Buch begründet er eine Jahrhunderte alte und ebenso krause Idee vom Völkermord der Kroaten an den Serben. Und weiter die Schraube rückwärts drehen...
Es hat sich einiges getan in Richtung ethno-serbischer National-Staat. Der Schriftsteller Lászlo Végel, 1941 in Novi Sad geborener Angehöriger der ungarischen Minderheit in Serbien, schreibt über die Veränderungen der multikulturellen Strukturen in der Vojvodina: "Die ungarische, rumänische und slowakische Sprache wurde aus dem öffentlichen Leben, den Behörden verdrängt, all dies informierte bildlich darüber, dass aus den sozialistischen Ruinen ein neuer Nationalstaat entstand. Der Bau des Nationalstaates begann in den Städten, das Lumpenproletariat der Vorstädte wurde zum Tagelöhner der Nation."
Und zum Wählerpotenzial der Radikalen: Die Parteien der nationalistischen Ideologie erhalten immer noch fast fünfzig Prozent der Stimmen, die geschrumpften Sozialisten, bisher dahin tendierend, hätten den entscheidenden Dreh zur Mehrheit geben können. Ihre EU-Feindseligkeit kommt nicht erst seit gestern, ihr etwas verblichener sozialistischer Patriotismus ist gut kompatibel mit dem Nationalismus. Ihre Wende erstaunt - entsprechend wütet Radikalen-Vize Vjerica Rade gegen den "Diktator Tadic´ " und droht ihm das "Schicksal historischer Verräter" an. Er meint die Ermordung des Königs Alexander Obrenovic´ ebenso wie jene Zoran Djindjic´s, den "Gott bestraft hat".
Über die politische Wende der SPS, der Sozialistischen Partei Serbiens, mit Ivica Dac´ic´ geht in Belgrad das Gerücht, die alten Granden der politischen Klasse selbst - Mihajlo Markovic´, Dobrica C´osic´ - hätten die Sozialisten auf einen historischen Kurswechsel gebracht. Politische Weichen wurden schon öfter in Belgrader Villen gestellt. Und dazu der Karadzic´-Coup: Ingredienzien für ein großes Drama, wie es die Belgrader Intelligenzia liebt.
Auch zurückhaltende EU-Freunde in Belgrad verstehen inzwischen, wohin dieser Nationalismus führt. Europa muss Serbien nicht in seinen Reihen haben - dann wird es hier eben einen ewiggestrigen, enorm rückständigen Staat geben, einen "failed state". Schon vor zehn Jahren warnte Djindjic´ sein Land, "dass die Zeit des Kommunismus und des Nationalismus auch in dieser Region vorbei seien. Man kann die beiden Ideologien nicht mehr gebrauchen, um Kollektive zu einer Handlung zu bewegen. Wenn man die Medien in dieser Region betrachtet, wäre man anderer Meinung, aber wenn man mit den Menschen spricht, entdeckt man, dass sie von der tatsächlichen Kraft dieser Ideologie nicht mehr bewegt werden können."
Um wirklich Anschluss zu finden, wird sehr viel notwendig sein. Die Defizite der politischen Kultur sind enorm, ein einschneidender Wandel der Institutionen ist dringend notwendig. Personell und institutionell sind alle militärischen Dienste sowie die Justiz rasch zu reformieren. Für die Medien, wo es in einigen Bereichen Fortschritte gibt, ist kontinuierliches demokratisches Monitoring wichtig, weiter die Verarbeitung von Transitionserfahrungen anderer ehemaliger Ostblockländer. Und natürlich, aber das lässt sich nicht verordnen, die Aufarbeitung der Vergangenheit.
Zur Zukunft Serbiens formulierte Zoran Djindjic´ einst: "Rechtstaatlichkeit - das heißt Menschen- und Bürgerrechte, zum anderen der Markt, das heißt die theoretisch gleiche Zugriffschance zu gesellschaftlichen Ressourcen, zu Geld, Macht, Einfluss, also der Markt als ein Beispiel des funktionierenden Pluralismus." Nichts Aufregendes also ...
Balduin Winter, geboren 1946 in der Steiermark, studierte in Wien und Graz. Arbeit als Literaturkritiker und Publizist. Zahlreiche Aufenthalte in Ostmittel- und Südosteuropa. Seit 2001 arbeitet er als Redakteur der Kommune in Frankfurt am Main.
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