Vor vier Jahren ließ Jirsí Kratochvil mit seinem Roman Inmitten der Nacht Gesang aufhorchen. Der Titel: Melodie; das Werk: ein Canto, manchmal vielleicht etwas formalistisch, wunderbar absurd, versponnen, verrückt, dass man erstaunt blinzelt und nickt, so ist es wirklich. Schon damals deutete sich an: Ein ganz großer Erzähler tritt an, einer, der zwar seinen Fähigkeiten noch nicht ganz vertraut, der ästhetische Probleme noch zu sehr in den Vordergrund stellt. Sein neuer Roman weist Kratochvil als einen begnadeten Dompteur des Unwahrscheinlichen, Unmöglichen und Undenkbaren aus, unverzichtbare Bestandteile der wahren Geschichten des Lebens.
Außerdem erfüllt er für seinen Sprachentfesselungsakt besondere Voraussetzungen, erklärt er doch einmal, "daß ich nicht nur eine Kreuzung aus Tschechen, Deutschen und Ukrainern bin, sondern auch aus Wölfen, Panthern, Schimpansen und verbastardierten Sagengestalten und daß ich jetzt für immer auf der Seite der Bastarde und Enterbten stehen werde, auf der Seite derer, die Ihre Welt nie annehmen werden". Womit wir mitten in einem nicht nacherzählbaren Roman sind (wie könnte ich armselig Sterblicher es mir anmaßen, eine "unsterbliche Geschichte" nachzulallen?).
Versucht sei hier ein grober Umriss des Opus. Meister Georg hat sich buchstäblich an einen Jahrhundertroman gewagt. Das ist vielleicht das Einzige, was sich exakt über dieses Buch sagen lässt. Es beginnt in der Silvesternacht von 1899 auf 1900 mit einer Parallelaktion und endet am Ende des Jahrhunderts mit einem Parallelende.
Die Parallelaktion besteht darin, dass in der Silvesternacht in Brünn Sonja Trotzkij-Sammler geboren wird, und zwar als Enkelin eines fanatisch-sektiererischen, russisch-orthodoxen Wanderpredigers, der durch die halbe Monarchie herumzieht, irgendwo den Sohn verliert, schließlich nach Amerika auswandert, wo er der erste orthodoxe Bischof der Indianer wird. Keine nachweisliche Verwandtschaft mit einem gewissen Bronstein, diesem antibolschewistischen Banditen, den die wahre proletarische Revolution in Mexico mittels eines Eispickels stellt. Natürlich wird Sonja nicht als Enkelin geboren, sondern als Tochter dieses verloren gegangenen Sohnes, der aufgrund seiner unglaublichen Begabung der jüngste Lokführer der k.u.k.-Eisenbahnen wird und in dieser verantwortungsvollen Tätigkeit Sonjas Mutter kennenlernt, als deren Bruder, ein Pfaffe, von einem agitierenden Anarchisten belästigt wird; aber die Geschichte ist viel komplizierter und nicht so rational. Die Mutter Sonjas, Gudrun Sammler, ist die Tochter eines böhmischen Gutsbesitzers im Adlergebirge, die nach 1945 im Namen des Volkes, obwohl sie immer tschechisch gesprochen, Henlein nicht gemocht und Hitler gehasst hat, als Sudetendeutsche denunziert und evakuiert wird; der Mann muss mit, mitgefangen-mitgehangen, so wird man einen ukrainischen Emigranten los, ob bei den "wilden Vertreibungen" die Blutgruppe D stimmt oder nicht, wer fragt danach schon in der Wüste, in diesem Fall im Massengrab?
Ein Nestbeschmutzer, dieser Kratochvil? Aber gaben nicht BenesÂ, Stalin und Co. ihren Segen für diese Kollektivschuldaktion? Zurück zur Geburtsnacht, zur Parallelaktion. In derselben Nacht registriert Sonja noch während ihrer Geburt das große Unglück ihres Lebens. Sie hat nämlich außergewöhnlich feine Sinne. Bruno Mlock, der 12-jährige Sohn des Wiener Hofschneiders, nimmt eine Abkürzung über die vereiste Donau, fällt in ein Eisloch, ertrinkt und erfriert. Doch nun geschieht Merkwürdiges, sonst hätte Meister Georg nichts zu erzählen. Nicht zufällig hat er eines seiner Motti von Dostojewskij: "Das, was die meisten phantastisch und außergewöhnlich nennen, bildet für mich die Grundlage der Wirklichkeit an sich." Er kann es sich leisten, ganz am Anfang schon zu verraten, dass Sonja Trotzkij-Sammler ledig bleibt und immer nur an die Hochzeit mit ihrem toten Bruno Mlock denkt; dass sie daneben eine ganze Armee von Liebhabern hat, von einem General bis zu einem dreibeinigen Krüppel, Gelegenheitsliebhaber, "um sich dann und wann dennoch auf die Schnelle mit Bruno zu treffen, unter überaus merkwürdigen Umständen" - selbstverständlich geht das nicht ganz mit rechten Dingen ab (achten Sie auf die sodomitischen Titel der einzelnen Bücher!); auch verrät er gleich, dass Sonja aus dem Sammler'schen Vermögen keine Mitgift bekommt, diese ruht bis 1945, dann ruht sie nicht mehr, sondern geht ins Volksvermögen über, denn die Eltern werden, siehe oben, Abteilung große Politik. Er verrät also einige Turbulenzen, und hat man einmal den Roman durch, ist man direkt froh, gleich anfangs ein wenig eingeweiht worden zu sein, denn es geht so turbulent zu, dass der Leser schwindlig buchstabiert wird und sich mehr als einmal an der Tischkante oder sonstwo festhalten muss.
Oder anders gesagt: Kratochvil ist, bei aller untertreibender Nüchternheit, ein erzählerischer Wirbelsturm. Kein Zufall, dass Milan Kundera ihn auf den Parnass der mitteleuropäischen Literatur inthronisiert hat. Es wimmelt an Geschichten, Kratochvil ist ein Bienenkorb von Unglaublichkeiten und entwickelt bereits zu Zeiten der Verordnungsliteratur eine Art fantastischen Realismus mit einer Erzählstruktur, die nur noch beiläufig einer temporären Linearität folgt, ansonsten aber die einzelnen Stories wie ein Patchwork miteinander vernetzt.
Immer folgt Kratochvils Prosa, auch die Unsterbliche Geschichte, historischen Vorgängen. Monopole an Geschichtsinterpretationen lässt er nicht gelten. Was, die Partei hat immer recht? Blödsinn, wo doch alles ganz anders gewesen ist... Das konnte bis 1989 natürlich nicht erscheinen, auch heute wird es viele Historiker befremden, wie sich Geschichte jenseits der Gelehrtenstuben ereignen kann, "halten Sie sich fest, meine Täubchen!" Natürlich lügt er wie gedruckt, aber wunderschön. Respektlos nimmt er die "große Geschichte" auf die Schippe, führt in die bekannten Personenanordnungen unbekannte Größen ein, nämlich die namenlosen Ich's und die Du's. Natürlich sieht Geschichte so blöd aus, weil die meisten jenen vertrauen, die Geschichte so blöd aussehen lassen. Klar, alles ist Spiel, und doch ist es ernst zu nehmen. 1905 fliegen über das Dorf Kinitz bei Brünn ganz niedrig einige Luftschiffe hinweg, als Sonja gerade mit ihrer Mutter durch die Auen der Schwarzau wandert. Eine Strickleiter baumelt herab, nimmt sie auf, und schon befindet sich das kleine Mädchen in feinster Gesellschaft des vergangenen Jahrhunderts, denn die vornehmsten Köpfe haben ihr eine Botschaft für das 21. Jahrhundert zu übergeben. Monsieur Charcot hypnotisiert sie und versiegelt die Botschaft fachgerecht. Die Weisen des 19. Jahrhunderts sind hellsichtig genug, das katastrophale 20. mit Schweigen zu übergehen. Sonja jedoch muss - und davon handelt der Roman - dieses verfehlte Jahrhundert irgendwie durchtauchen, schon der Botschaft halber.
Wenn aber Kratochvil schon vorab soviel verrät, verrate ich auch gleich etwas, seiner Tiermetaphorik folgend: Schlau wie ein Fuchs und feige wie eine Hyäne entzieht er sich einem grandiosen Happyend, lässt das Buch im Juli 1997 enden statt 2005 mit der möglichen Übergabe der Heilsbotschaft, mit der möglichen Rückkehr ihres verschwundenen Sohnes aus Tibet, mit der möglichen Prunkhochzeit im Wiener Stephansdom, wohingegen der Opernball doch nur eine Vorstadtkneipenveranstaltung ist, mit der möglichen Wiederkehr ihres Brunos aus dem Leib eines riesigen Wals im Zürchersee - Himmel, ein Finale furioso hätte das werden können wie das Jüngste Gericht von Paul Klee in der unverwechselbaren Kopie von Lukas Cranach dem Älteren! Das wäre dann allerdings der ultimativ letzte Roman. Ein entsetzlicher Gedanke. Denn aufs Ende dieses Buches hin habe ich bemerkt, dass ich, obwohl völlig vom Sog der Unsterblichen Geschichte erfasst, immer langsamer wurde, eben um dieses Ende wissend und um die folgende Leere: Nur kein unsterbliches Ende, ich will süchtig bleiben nach solchen Geschichten. Zum Glück meint Kratochvil mit der Unsterblichkeit etwas anders: "Gott hat uns ein furchtbares menschliches Schicksal beschieden, gleichzeitig hat er uns aber das Geschenk des Spielens gegeben, was die Ernsthaftigkeit nicht ins Unernste zieht, sondern uns lediglich die Chance gibt, ihrer Schwere für einen Augenblick zu entkommen. Unser Jahrhundert war schrecklich, Mama, aber eines Tages, aus einem großen Abstand heraus, wird daraus ein großer Karneval. Und dann werden wir, die lächerlichen Helfer, Heiligkeit erlangen."
Jirí Kratochvil: Unsterbliche Geschichte oder Das Leben der Sonja Trotzkij-Sammler oder Karneval. Roman. Aus dem Tschechischen von Kathrin Liedtke und Milka Vagadayovß. Ammann-Verlag, Zürich 2000. 300 S., 39,80 DM
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