Öffnet man dieses Buch, erhält man als erstes eine Lektion: Landeskunde Albaniens. Über die Oberflächenformen - Schluchten, Gebirge, dinarischer Kalk - wird man erst später unterrichtet, wenn das junge Mädchen mit ihrer Mutter den Vater im Gefangenenlager besucht. Eingangs das Grundlegende: "In diesem Land existiert der Tod nicht." Denn die Albaner sind ein ganz besonderer Menschenschlag, "bewässert vom Raki und desinfiziert vom Peperoni in den allgegenwärtigen eingelegten Oliven". Da werden die Körper robust, die Wirbelsäulen eisern und die Menschen zu Helden, die keinen Spaß verstehen. Angst gibt es in diesem Land keine, dafür Größenwahn. Und im Mittelpunkt des Lebens der Albaner, Männer wie Frauen, steht das Herumhuren.
Ornela Vorpsi, Jahrgang 1968, hat 1991 Albanien verlassen. Sie hat Kindheit und Jugend in einem Land verbracht, in dem Menschen für Beethovens Kreutzersonate und Maupassants Bel ami ins Internierungslager gesperrt wurden. Ihr Land kennt sie, und ihr Metier beherrscht sie. Heute lebt sie als Malerin, Fotografin, Videokünstlerin und Schriftstellerin in Paris, schreibt auf Italienisch und hat kein Bedürfnis, ihre inzwischen preisgekrönten und in mehrere Sprachen übersetzten Bücher in Albanien zu vertreiben.
Sie legt ein Buch über eine Kindheit und Jugend in diesem Land vor, und man spürt, wie es glüht, es ist ein gebändigter Zorn, gleichermaßen mitleidslos, immer bedacht, hart auf den Punkt zu treffen. Den Machismus stellt sie an den Beginn dieser Geschichte - er ist das Um und Auf des "Kanon", des ungeschriebenen Kodex einer durch und durch patriarchalen Gesellschaft, deren heimliche Stammesstrukturen das ideale Unterfutter für die kommunistische Diktatur abgegeben haben und noch heute ganz entscheidende Modernisierungsbremsen sind.
In lapidarer Sprache entwirft die Autorin kleine Szenen aus dem Alltagsleben der zunächst sieben-, später 13-jährigen Ormira. Im Kern steht eine ebenso starke wie ambivalente Beziehung zur Mutter, einer Kleinstadtschönheit, die wohl auch "herumhurt", deren Mann wegen parteischädigender Äußerungen "abgeholt" wird (etwa: das Jahr fängt schon an und es gibt noch immer keine Kartoffeln...). Vermutlich hat sich aber ein hoher Funktionär aus dem Shehu-Klan in die Mutter verliebt.
Das Mädchen wächst bei Tanten und Cousinen auf und erfährt früh, dass alles sich um "die Reinheit" dreht, dass in diesem Land ein Mädchen nie wieder sauber wird, "auch wenn es sich mit dem Wasser des Meeres wäscht, des ganzen Meeres". Nur Kranksein entlastet vorübergehend von diesem Leitthema. Und erst mit dem Tod wird man ein wundervoller Mensch: "Mit einem Mal besitzen die Männer alle guten Eigenschaften, die Frauen alle Tugenden." Ein Sprichwort lautet: "Die Deinen fressen dir zwar das Fleisch weg, heben jedoch deine Knochen auf." Die kindlich unbefangene Logik - wenn sie schon das Fleisch wegfressen, können sie auch das Gebein wegwerfen - stößt auf ein vernichtendes Tantenwort. Wie überhaupt jugendliche Begeisterung an der Entdeckung der Welt in dieser Region nicht unbedingt auf Erwiderung stößt, lauerte doch ringsherum und sogar heimlich im Lande überall der Klassenfeind.
Die krummbeinige Lehrerin Dhoksi fühlt sich berufen, der Tochter eines politischen Gefangenen den Kommunismus besonders einzubläuen, zumal diese wegen ihrer Schönheit besonders gefährdet ist. Im Namen aller Genossen Volkshelden und ihres Grolls ob ihrer Hässlichkeit liebkost Lehrerin Dhoksi den hübschen Körper Ormiras mit einem eisernen Lineal, das sie zur Hebung des pädagogischen Wirkungsgrades zuvor auf einem Holzofen erhitzt. Dann wieder muss Ormira die Neugier der Lehrerin stillen: Verrichtet ihre schöne Mutter Hausarbeit? Wäscht sie die blutigen Monatsbinden? Was macht sie für ihre Schönheit? Schmiert sie sich Eidotter ins Gesicht? Hatte sie Männerbekanntschaften? Als Ormira daheim alte Postkarten mit Engeln hervorkramt und in die Schule mitnimmt ("es gibt sie doch!"), wird sie von Dhoksi verprügelt, dass sich auf ihrem Körper kleine Wasserbläschen bilden. Die Partei hat immer Recht.
Als sie Zweifel an der Unendlichkeit des Universums äußert ("es muss irgendwo zu Ende gehen, sonst würde selbst das Universum müde werden"), wird sie aufgefordert, sich mit dem Genossen Darwin und dem dialektischen Materialismus mehr auseinander zu setzen, um sich gegen den Feind zu wappnen. Sich mit der Materie beschäftigen, wie aus der Amöbe sich der Mensch entwickelt, der von der höchsten Art des In-der-Welt-Seins träumt: dem Kommunismus - der Mensch ist eine "heroische Spezies". Erst recht der Albaner. Ormira verlegt sich lieber auf die dem Sozialismus fremde Mystik der Schatzsuche.
Immerhin führt das vaterlose Aufwachsen dazu, dass die Tochter leidenschaftlich zu lesen beginnt, "lesesüchtig" wird. Vorwiegend die russische Weltliteratur. Und auch da erscheint ihr die Liebe eine Angelegenheit, für die Frauen leiden müssen, weil die Männer einer Frau alles Mögliche abverlangen. Die Lesesucht kommt sie teuer zu stehen. Für ein gutes Buch tauscht sie den Familienschmuck ein. Denn Grimms Märchen etwa sind nur auf dem Schwarzmarkt zu haben. Zwar gibt es im roten Reich keine Prinzessinnen und Zauberstäbe mehr, aber Schwarzmärkte, um darüber lesen zu können. Allerdings sind auch die niedrigen Instinkte der Menschen noch nicht ganz ausgestorben. Als sie mit Hepatitis im Krankenhaus liegt, wird ihr das Märchenbuch gestohlen.
Die Mutter lässt sich scheiden, sie will den Namen des Mannes wieder abgeben, während die Tochter ihn behalten wird. Gegen Ende des Buches taucht der Vater wieder auf, entlassen, gezeichnet. Die Tochter besucht ihn, er erkundigt sich nach der Mutter. Sie soll ihm ein Treffen mit der Mutter arrangieren - und Ormira ahnt, dass sie nur die Brücke zum Objekt seiner Begierde ist, das er im ewigen Spiel zurückhaben möchte. Daraus wird nichts, er heiratet schließlich irgendeine andere.
Sie ist 22 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter wegzieht, auswandert, ins "gelobte Land", nach Italien. Es ist ein gewöhnliches Land, anders als sie es aus TV und Illustrierten kennen. In diesem Land können die Albaner lernen, dass sie normal, sterblich sind. Deshalb kehren viele nach Hause zurück. Man kann annehmen, dass Ormira der Autorin ziemlich ähnelt, dass sie das Land ihrer Kindheit satt hat. Vorpsi präsentiert sich gewissermaßen als Anti-Kadare. Während der alte Mann der albanischen Literatur (und der hohe Ex-Parteifunktionär) die edlen Züge eines vermeintlichen albanischen Nationalcharakters nachzieht, konterkariert Vorpsi "den Albaner" - das ist mehr als eine Abrechnung mit dem kommunistischen System.
Die Ebene der Sozialromantik lässt sie gründlich hinter sich; die Völker des Südens sind zwar aus Gründen arm, aber nicht edel oder stolz. Mit dem archaischen Stammesstolz hat ein Kommunismus aufgeräumt, der sich totalitär von seiner aufklärerischen Herkunft gehäutet hat. Vielleicht braucht man öfter solche literarischen Spiegel, es geht hier schließlich um die so leicht verletzbare Würde des Menschen und um die Vergesslichkeit derer, die sie verletzen.
Ornela Vorpsi: Das ewige Leben der Albaner. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Zsolnay, Wien 2007, 144 S., 14,90 EUR
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