Glaubt man insbesondere seinen jungen Autoren, ist Polen heute kein begeisterndes Land. Wir erinnern uns an Dorota Maslowskas schnellen Kleinstadtroman Schneeweiß und Russenrot, getragen von Drogen, Alkohol, schnellem Sex und Dorotas unglaublichem Slang. Da sieht Salingers 2003 neu übersetzter Fänger im Roggen müde aus, und Trainspotting ist dagegen ein Familienfilm. Auch kann man sich die irritierten Mienen der Kaczynski-Brüder, denen Ironie so fremd ist wie den Haien die Schwimmblase, über den neuen Realismus der jungen Generation vorstellen, angesichts der kapitalismuskritischen Arbeiten Slawomir Shutys, der existenziellen Leere bei Miroslav Nahaczs jungen Leuten, die in den Karpatendörfern herumsitzen, nichts tun, Alkohol trinken, der lasziven Typen bei Michal Witkowski, der angeblich den ersten Schwulenroman Polens geschrieben hat. Und angesichts Daniel Odija, der in seinem Roman Das Sägewerk darüber schreibt, woher er kommt, nämlich von dort, woraus Polen vor allem besteht: vom Land, aus der Brutalität und Idiotie des Landlebens.
Von Polen lässt sich ganz allgemein sagen, es ist vielleicht ein bisschen langweilig, landschaftlich jedenfalls ist es großenteils sehr flach, kein Land für Menschen, die es gewohnt sind, sich an Gipfeln zu orientieren, ausgenommen im Süden; es gibt schöne Ecken, Kulturschätze in allen Windrichtungen, zahlreiche Orte, an denen an Trauriges und Schauriges erinnert wird, vor allem aber gibt es, wovon es schon immer sehr viel gegeben hat, es gibt Wald, sehr viel Wald, Holz, und Felder, grün und gelb. Man sieht, wohin die EU ihre Milliarden buttert. Ehre der polnischen Kartoffel.
Als Józef Mysliwski nach der Wende "hierher" kam, begann er etwas mit Füchsen. Er begann auch mit einer Familie, und gegen Ende der Erzählung streut der Autor den Verdacht, Józef habe seine Maria in einer fast schon vergessenen Vorzeit tatsächlich einmal geliebt, ein Eindruck, den das Buch Seite um Seite zu entkräften sucht. Die Frau geliebt hat sein Namensvorbild auch nicht. Er hält sie aus, weil sie ihm einen Sohn gebiert, ansonsten gibt es für ihn nur die Geschäfte und die Huren. Eine, Frau Mariola, führt die Kneipe "Zagroda", wo sich alle treffen, und die Männer ihren auffälligsten Körperteilen Komplimente machen.
Der Ort ist das flache Land irgendwo im Norden, ein See, zu dem immerhin ein paar Touristen kommen, was der alte Secowiak zur Reichtumsmehrung nutzt, eine Kolchossiedlung, in der Armut und Arbeitslosigkeit und Langeweile existieren. Józef Mysliwski gründet ein Sägewerk, stellt einen Vertreter und Arbeiter ein, nachdem er schon das meiste Land ringsherum aufgekauft hat. Hier, am Rand der Gesellschaft, am Rand Europas, schafft es keiner von den ehemaligen Kolchosangestellten, selbst etwas aufzuziehen, niemand ist gewohnt, sein eigner Unternehmer zu sein. Daniel Odija, selbst im Sozialismus aufgewachsen, versteht es, ein Personal zu entwerfen, das mit allen Fesseln des vergangenen Systems in das neue geht, dazu statt mit Lenin wohl versehen mit der blauen Madonna, und damals wie heute mit der entsprechenden Überlebensration Wodka.
Alek, eine Zeitlang in die Vereinigten Staaten emigriert und wieder zurückgekehrt, hat durch dieses Intermezzo seine Heimatprägung nicht im mindesten abgelegt. Er hält sich zurück, wenn der Sägewerksbesitzer es mit seiner verheirateten Schwester treibt, nur den zweiten Wodka, den Józef ihm anbietet, lehnt er ab. Die beobachtende Krankenschwester sieht, dass eine Macht Józef in die Knie drückt und schüttelt. Der Frau Mariola steigt Alek beharrlich nach, mag Józef noch so oft bei ihr auftauchen, mag sie auch regelmäßig in die Stadt fahren zum Friedhof, zum Grab eines Burschen. Denn da gibt es eine Geschichte mit einem Arbeiter von den Hochspannungsmasten, mit fast zusammen gewachsenen schwarzen Brauen, mit einer Verrückten, die schwanger wurde, munkelt man. Genauer: mit Magda, einem schwachsinnigen Mädchen, das er vergewaltigt und schwängert. Die Mutter des Burschen war aber eine reiche Dame aus der Stadt. Frau Mariola hat ihn manchmal zu trösten versucht, er hat sie gar nicht wahrgenommen. Er ist verbrannt wie ein Streichholz, Arbeitsunfall. Jetzt trauert sie und für Alek hat sie keinen Blick. Das flache Land ist voll Shakespeare. Alek hasst Józef, der alles nimmt, was er unter die Lenden kriegt.
Man spricht nicht über Probleme, man handelt oder säuft. Odijas Buch, obwohl es Sprech- und Dialogpassagen enthält, obwohl gegrölt und geschrien wird, ist auch eine Ode an die Lakonie. Geklärt, gelöst wird nichts in diesem Buch, obwohl ein Mord geschieht, eine Frau vergewaltigt und ein Brand gelegt wird. Es tritt kein Polizist auf, kein Detektiv, kein Vertreter der Gerechtigkeit, lediglich ein vermutlich rechter, populistischer Politiker, der mit Hilfe des Sägewerk-Vertreters Marcin Panek die armen Leute auch noch abkassiert. Ein alter halbblinder Mann bringt mit seinem stechenden Blick angeblich Unheil. Bei Krzysztof, Marias und Józefs Sohn, führt eine Begegnung mit dem alten Männchen zumindest zu angeschissenen Hosen. So unheimlich ist der Blick aus den vom Star getrübten Augen. Außerdem besitzt der Alte einige uralte, völlig versponnene Rezepte, womöglich aus dem Mittelalter. Und er schreibt gegen die Einsamkeit an. Eigentlich ist er nur ein harmloser Spinner. Aber Krzysztof hat wenigstens einen Grund zur Rache. Mit seinen jugendlichen Saufkumpanen überfällt er den Alten in seiner Hütte. Sie schlagen ihn tot. Der Epileptiker Staszek findet ihn am nächsten Tag. Er will sich mit Alek beraten, doch dieser sitzt besoffen in der Kneipe. Staszek möchte ins Kloster gehen, er hat dieses brutale Leben satt.
Es ist nicht einmal ein Panoptikum, Odija fügt im Grunde nur verschiedene Szenen lose aneinander. Sein Thema ist das langweilige, ereignisarme Leben auf dem Lande, welche Leute dort herumlaufen, mit welcher durchschnittlichen Portion Hinterlist, Grobheit und Blödheit sie ausgestattet sind. Er kommt wohl selbst aus so einer Gegend und wird genau hingeschaut haben. Dabei bemüht er sich nicht lange darum, eine Handlung oder seine Figuren zu entwickeln. Die Szenen hängen durch Ort, Zeit und Personal, nicht durch die Handlung zusammen. Er ist zugleich ganz nah bei und ganz weit weg von seinen Personen. Ein unerträglich ungeschminktes Bild. So also ist Polen, der neue Osten, die Globalisierung, die immer hintan hinkende Provinz, der Niedergang, noch viel schlimmer als die Zwillinge, als Radio Marya und der Antisemit Giertych. So ist das Lebensgefühl einer jungen Generation. Wahrscheinlich sieht es hierzulande recht ähnlich aus, doch kümmern sich die Dichter hier recht wenig darum. Dabei mischt Daniel Odija durchaus noch Pastelltöne hinein, er denkt metaphorisch über Leben und Tod in dieser Ödnis nach, in den knallharten Realismus webt sich manch zarter Unterton, das wird auch in den Kapitelüberschriften deutlich: "Wasser und nicht nur", "Nebel und nicht nur". Manchmal schwebt das Buch vor lauter Verzweiflung. Aber Odija schreibt seine Geschichten bis zum Ende, bis Alek geht, weggeht, obwohl das auch niemanden interessiert. Nur den Autor, der Alek zum Abgang in die Sonne drei, vier schöne Worte schenkt. Er hat übrigens in Danzig Polonistik studiert, wo auch der 1949 geborene Stefan Chwin unterrichtet. Welche Welten liegen zwischen diesen Generationen!
Daniel Odija: Das Sägewerk. Roman. Aus dem Polnischen von Martin Pollack, Zoslnay, Wien 2006, 176 S., 15,90 EUR
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