Gleich vorweg: Endlich gibt es einmal ein paar wirklich gute Bücher über die Türkei, die von Leuten geschrieben sind, die entweder im Lande leben oder zumindest längere Zeit dort verbracht haben; Autoren also, denen die einheimischen Verhältnisse vertraut sind, was auch ihren Büchern zugute kommt, die allesamt mit sehr soliden Informationen aufwarten. Eines davon aber glänzt.
Obwohl er erklärtermaßen von einem Kampf der Zivilisationen ausgeht, sieht FAZ-Korrespondent Rainer Hermann die Türkei politisch wie auch geografisch in Europa: Denn "weder die Kultur noch die Natur zieht zwischen Europa und Asien eine klare Grenze ... Ohne Kleinasien wäre die abendländische Kultur ärmer." Sein Buch Wohin geht die türkische Gesellschaft? Kulturkampf in der Türkei geht in vielen Passagen scharf mit dem Nationalismus ins Gericht, differenziert hingegen wohltuend, was die Parteienlandschaft angeht. Der Autor reibt sich an der übergewichtigen Rolle des Militärs als Hüter der kemalistischen Staatsordnung und einer Justiz, die in vielerlei Hinsicht den Staat gegen den Bürger verteidigt. Den Kemalismus betrachtet er als erstarrtes Dogma einer Elite und als Korsett für die demokratische Entwicklung des Landes. Die Eleganz und Schärfe seiner Kritik ist freilich mit einer Schwäche behaftet.
Hermann überschreibt ein Kapitel mit "Gründungskoordinaten der Republik Türkei", aber die Darstellung des scharfen Bruchs und Übergangs vom Vielvölkerstaat über genozidäre und assimilierende Unifizierung zum Versuch einer ethnisch bereinigten "Erziehungsdiktatur" bleibt blass. Dem armenischen Völkermord weicht er aus, reicht ihn nur im Anhang als "Hypothek" nach. Hermanns Stärken liegen in der Analyse der aktuellen Parteienlandschaft und des Islam. Man erfährt einiges über die Theologische Fakultät von Ankara und den türkischen Reformislam. Für die Entwicklung der AKP zu "muslimischen Demokraten" beruft sich Hermann auf interessante türkische Politologen. Trotz vieler Defizite der Türkei ist der Autor in Bezug auf die Europäische Union überzeugt: "Eine solche Ordnung hat Platz für die Türkei."
Dem dürfte sich Necla Kelek nicht unbedingt anschließen. Bittersüße Heimat. Bericht aus dem Inneren der Türkei sind Berichte und Reflexionen über eine Reise durch die Türkei. Eine Heimatsuche im Wortsinn, das sehr persönliche Buch eines Menschen, dem die Heimat fremd geworden ist. Denn Necla Kelek, seit langem in Deutschland lebend, ist inzwischen eine andere geworden, reist mit westlichen Maßstäben in die alte Heimat - und davon ist die Türkei in vielem sehr weit entfernt.
Zu Keleks Buch muss man vorausschicken: Alles Religiöse ist ihr verhasst, sie sieht überall eine "schleichende Islamisierung" am Werk. Die AKP? Ebenso islamisiert wie jene türkischen Unternehmer, die nichts Innovatives an sich haben, sondern nur den Westen imitieren und die islamischen Werte einführen, das "Prinzip des taqlid, der Imitation oder der Nachahmung". Aber da sie sich natürlich sehr gut auskennt, kann sie mit einer eigenwilligen Erklärung des Nationalismus aufwarten. Das Osmanische Reich habe aufgrund militärischer Expansion floriert, das habe Wirtschaft und Eliten geprägt. Die Jungtürken hätten dieses Konzept sozusagen nach innen angewandt, indem sie ganze ethnische und religiöse Gruppen zu "entfernen" suchten: Armenier, Griechen, Christen - allesamt auf irgendeine Weise Feinde des "Türkentums". Dieses ist aber nur Konstrukt einer Staatsideologie, die keinen Bürger kennt, sondern nur "Türken" im Bekenntnissinne. Der "Türke" aber ordnet sich selbst dann, wenn er in die Kategorie des "ethnischen Türken" fällt, eher einer politischen, kulturellen, religiösen oder eben ethnischen Gruppe zu. In Ostanatolien besucht Kelek Frauenorganisationen, die sich Tag um Tag für geschundene Frauen einsetzen. Das ist erschütternd. Aber Kelek zeigt nicht nur konkrete Fälle, sondern erklärt auch anhand des dortigen Ehrbegriffs, warum man hier "Verbrechen im Namen der Ehre" nicht als Mord, sondern als Selbstverteidigung versteht. Die von ihr zitierten Untersuchungen werfen ein düsteres Bild auf die Gesellschaft: "An den Antworten wird deutlich, dass die Ehre von allen befragten Männern als gesellschaftliche Norm akzeptiert wird, für deren Verlust fast vier von zehn Befragten zu töten bereit wären." Necla Kelek sieht die Türkei, die ihrer Ansicht nach erst einen neuen Gesellschaftsvertrag bräuchte und "zu jung zum Heiraten" ist, noch weit weg von Europa.
Jürgen Gottschlich, Korrespondent der deutschen Taz, ortet ausgrenzende Haltungen eher bei der EU, der die Türkei als muslimisches Land fremd erscheint. Dies jedoch sei eines der deutschen Missverständnisse, meint er in seinem Buch Türkei. Ein Land jenseits der Klischees. Die kemalistische Revolution habe aus der Türkei ein laizistisches Land gemacht; allerdings von oben, gegen die Massen sei die Moderne eingeführt worden. Dieser "Geburtsfehler" räche sich. Im "Kulturkampf zwischen Frommen und Säkularen" wollen muslimische Demokraten die Zwangsreformen der 1930er Jahre rückgängig machen. Ein muslimisches Land wird die Türkei dennoch nicht werden.
Gottschlich geht es um die Widersprüche des Landes. Schön zu lesen ist bei ihm auch die Geschichte der "Gecekondu", der enorm wuchernden Vorstädte, Zuzugsgebiete der anatolischen Landbevölkerung. Istanbul hatte in den 1960er Jahren 1,5 Millionen Einwohner, heute leben dort zehnmal so viele Menschen. Es ist eine große Leistung der Stadtverwaltungen, die Urbanisierungswellen der letzten vierzig Jahre bewältigt zu haben. Oft an den Gesetzen vorbei, doch dank des Improvisationsvermögen aller Beteiligten - Migranten, Bürokratie, Bauindustrie - wurde eine halbwegs erträgliche Situation geschaffen.
Gottschlich gewinnt dem Wechselspiel von Korruption, "Flexibilität und paternalistischer Fürsorge" in Istanbul vorwiegend positive Seiten ab. Breiten Raum nehmen die Kurdenfrage und die Lage der arbeitenden Menschen ein. Auch bei denjenigen, die den Reichtum in den Fabriken produzieren, hat er sich umgesehen. Die Arbeitsbedingungen in der Istanbuler Werftenindustrie sind haarsträubend, Leiharbeit ist üblich, wer protestiert, ist draußen. Unzulänglicher Arbeitsschutz und viele Unfälle kennzeichnen den Alltag, politische Verfolgung allzu aktiver Gewerkschaftler ist üblich. "Manchester-Kapitalismus", konstatiert er, wo andere vom "islamischen Calvinismus" reden. Der Militärputsch 1980 war ein schwerer Schlag gegen die Arbeiterbewegung und ihre Organisationen, eine linke Partei wäre dringend vonnöten.
Gerhard Schweizer stellt in seinem Buch, Die Türkei - Zerreißprobe zwischen Islam und Nationalismus, gleich die Republikgründung in den Blickpunkt. Mustafa Kemal ist ein Militär, der in einer historischen Situation großer Bedrängtheit - drohende Zerstückelung des Reiches im Ersten Weltkrieg - sich gezwungen sah, brutal zu handeln: Vor die Wahl zwischen Religion oder jungtürkischem Nationalismus gestellt, entscheidet er sich für letztere und somit für einen Extremismus, der in der Folge zu Massaker und Völkermord führt. Andererseits ist Atatürk vom Geist der Aufklärung getragen, Recht, Verwaltung, Schulsystem, Religion und anderes wird per Schocktherapie "verwestlicht" - mit Auswirkungen auf andere arabische Länder. Auch über die Kurden und ihre Sprache weiß Schweizer Wesentliches zu sagen; seiner Meinung nach sind die frühen Aufstände religiös motiviert gewesen.
Sehr viel erfährt man auch über die Aleviten, die etwa 20 Prozent der türkischen Bevölkerung ausmachen, wie auch über die Geschichte der islamischen Orden (zum Beispiel der Naqshbandiya) oder der Reformtheologie, aus der einzelne Vertreter auch inhaltlich vorgestellt werden. Anhand von Vergleichen zwischen den Buchreligionen zeigt der Autor auf, dass eine Reihe von angeblich religiösen Vorschriften gar nicht aus dem Koran oder der Bibel stammen, sondern entweder spätere Hinzufügungen oder aus jahrhundertelanger Männerherrschaft abgeleitete Tradition sind: Weder ist das Kopftuch im Koran vorgeschrieben, noch haben die Frauen in der Kirche zu "schweigen" (das katholische Priesterinnenverbot bei Paulus ist eine Fälschung). Im Bezug auf die EU ist Gerhard Schweizer Skeptiker, an der "türkischen Moderne" geht ihm ein wesentliches Moment ab: "der Ausgleich zwischen religiöser Tradition und Modernisierung".
Economist-Korrespondent Christopher de Bellaigue, ungemein sprachkundig, bohrt tief in zentrale Probleme hinein. "Der faszinierende, blutbefleckte Bezirk Varto" steht im Fokus seines Buches Rebellenland - ein durch Armenier und Kurden doppelt konnotierter Raum zwischen Erzurum, Van und Diyarbakir, wo sich die ostanatolische Provinzstadt Varto befindet. Varto ist ein alter armenischer Name. Indem der Autor ganz nahe an die persönlichen Geschichten herangeht, an die verwickelten Genealogien der mächtigen Clans der sunnitischen Kurden und der Aleviten, gelingt es de Bellaigue sogar, Fäden in der Gegenwart aufzugreifen, die direkt an diese untergegangene Vergangenheit anknüpfen,
Ein ungemein lebhaftes Bild der Auseinandersetzung zwischen "Türken" und Armeniern entsteht so, mit all den Bestialitäten, auch von Seiten der Armenier, die 1916/17 mit der russischen Armee für kurze Zeit zurückkehrten, um Rache zu üben. De Bellaigue versteht es, die Wirren dieser Zeit mit den Kurdenverfolgungen und dem großen Aufstand von 1925 zu verweben, den er dezidiert als ethnisch-nationalistisch charakterisiert, auch wenn die Propaganda der Anführer eine religiöse ist.
Überspitzt formuliert, gibt es von dieser Revolte an eine Art Kontinuitätslinie auf Seiten der kurdischen Clans, die die Unversöhnlichkeit und den Gedanken des kurdischen Widerstands weitertragen, bis ihn in den Siebzigern PKK-Gründer "Apo" Öcalan aufgreift. In dieser Figur kommen die tiefen Widersprüche zum Ausdruck, die zwischenzeitlich die Türkei fast zerreißen. Wie Christopher de Bellaigue regionale Erzählung und große Politik miteinander verbindet, ist nicht nur enorm spannend, sondern von großer analytischer und auch literarischer Kraft. Plötzlich scheint einem die Türkei im wahrsten Sinn begreifbar.
Christopher de Bellaigue Rebellenland. Eine Reise an die Grenzen der Türkei. Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber, Beck, München 2008, 340 S., 19,90 EUR
Jürgen Gottschlich Türkei. Ein Land jenseits der Klischees. Mit Fotos von Murat Türemis. Links, Berlin 2008, 216 S., 16,90 EUR
Rainer Hermann Wohin geht die türkische Gesellschaft? Kulturkampf in der Türkei. DTV, München 2008, 320 S., 14,90 EUR
Necla Kelek Bittersüße Heimat. Bericht aus dem Inneren der Türkei. Kiepenheuer, Köln 2008, 176 S., 16,95 EUR
Gerhard Schweizer Die Türkei - Zerreißprobe zwischen Islam und Nationalismus. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, 320 S., 19,90 EUR
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