In manche Bücher Mitteleuropas verliebe ich mich auf der Stelle. Jirí Kratochvils Unsterbliche Geschichte oder Jáchym Topols Schwester gehören zu jenen Typen, die nach wenigen Seiten bereits einen Sog entwickeln, der die Leserin und den Leser, so sie nicht der säuerlichen Spezies des teutschen Feuilletonbeamten angehören, in einen Rausch versetzt. Etwas diskreter ist der Charme von Danilo Kis, natürlich wirkt die Liebe nachhaltig; ebenso, wenn ich grundlos ans Bücherregal trete, Fulvio Tomizzas Materada in den Händen wiege, einen Gedichtband von Ilma Rakusa herze oder Ciril Kosmaè's Tantadruj an seinen Narrenschellen zupfe.
Und jetzt diese Julijana Matanovic: Ich umarme dich öffentlich. Du hast, für mich, die sinnlichste Szene der letzten zwanzig Jahre geschrieben. Mindestens zwanzig Mal hab ich sie gelesen und ihr nachgeträumt, sie mir auf der Zunge zergehen lassen, Trauben, Traubensaft ... Und mich daran erinnert, dass ich einst als Kind auch dieses archaische Glückserlebnis hatte, das Stampfen der gepflückten Trauben mit bloßen Füßen im Fass, das Gatschen und das Spritzen, das Schwanken auf zermatschten Beeren, die zertretenen Schalen der Beeren quollen zwischen den Zehen, wir Kinder waren außer uns vor Übermut.
Die Autorin stampft den Wein im Fass ihres Schriftstelleronkels, irgendwann in den sechziger Jahren, als Jugoslawien noch Jugoslawien war und Tito der weise Lenker der Völker. Sie ist gerade sieben, geht in die Grundschule, buchstabiert eher schlecht als recht längere Wörter, wird wegen ihrer Fehler von den anderen Kindern ausgelacht, schämt sich, muss während dieser dionysischen Szene in die violette Traubensoße heulen und beschließt, ihre Alphabetisierung voranzutreiben, um ganz schnell Bücher lesen zu lernen und um solche auch einmal schreiben zu können. Nimmt sich ein eigensinniges Kind bei solch lustvollem Tun vor, Dichterin zu werden, erspart sie sich später jede weitschweifige Begründung für ihre Bücherproduktion, denn der Grund liegt, was immer sie auch daherflunkern mag, wie immer sie es auch zu mystifizieren versucht, einzig in dieser Urszene, im Fass (Diogenes, Vers 123).
Als Kritiker, Mitteleuropäer noch dazu, bin ich über den Verdacht jeglicher Parteilichkeit erhaben. Zu strenger Objektivität verpflichtet gebe ich kund, dass Warum ich euch belogen habe weniger ein Âuvre ist als vielmehr ein Hors d'Âuvre. Genauer gesagt, ist es ein flockiges Soufflé, kakanisch das Omelett mit Pimpernell und Muskatnuss, die Füllung flaumig aufgeschäumt mit slawonischem Seelenmokka, träumerisch schaukeln jugoslawoliberal realsoziale Luftblasen drauf. Natürlich mit einem leisen Hauch von Nostalgie, das muss sein, nicht dieses Blödwort von Jugonostalgie, sondern von jener, in der schon Musil und Broch und Milo Dor und sämtliche böhmische Dörfer geschwelgt haben. Die Matanovic hat eine ganz feine, ganz sensible Szene, an der Sie ein wenig schnuppern können, warum Sie halt anders sind als die "da unten". Da besucht sie ihre emigrierte Mutter in Frankfurt, die lebt dort in einer Exilkolonie und hat viel von der Balkankultur abgelegt und viel von der deutschen Zivilisation angenommen und kann nicht verstehen, warum die Tochter stur auf dem primitiven magenschädigenden türkischen Kaffee besteht und den hochgesunden umweltfreundlichen deutschen Filterkaffee (Lawutschibrüh') ablehnt. Hat halt die Mythen gegen postmodernes Geschwätz getauscht, in den Kukuruzebenen ein bisserl Lyotard am Lagerfeuer geschnüffelt, aber sonst ...
Um die Jugoslawien-Kriege und darum, was Kohl, Genscher und andere da versaut haben, geht es der Matanovic kein Etta, denn der Balkan und die deutsche Frage interessiert sie nicht, Touristik schon gar nicht. Trotzdem können Sie unendlich viel bei ihr lernen. Über Jugoslawien, von innen her, von den Menschenlandschaften, wenn sie ihren Slalom zwischen 150 Tanten und Onkeln zieht. Anhand von Stichworten, insgesamt zwölf, wie Schuhe, Name, Reim, Foto, Kastanie, Lesehaus usw. erzählt die Autorin Geschichterln aus ihrer Kindheit und Jugend in der kroatischen Provinz. Stricken scheint neben dem Vermummen ihrer Füße durch vielerlei Schuhwerk eine ihrer großen Passionen zu sein. Auch wenn sie manchmal Maschen fallen lässt oder ein Muster wieder auftrennt, weil sich während des Strickens die Dinge verändert haben, so dass es nicht mehr passt, der Lesemensch spürt es deutlich mit fortschreitender Lektüre: Da strickt eine nicht nur mit hohem handwerklichen Können, mit Geschick und Akribie, sondern mit leichter Hand, mit Leib und Seele und mit spielerischer Fantasie. Eine Schwätztante, die munter drauf los plaudert? Nein. Schauen Sie sich die Kastaniengeschichte genauer an, wie kompliziert sie zusammengepusselt ist; die Strickanleitung finden Sie im Pulloverkapitel. Sie ist ebenso verzweigt und verästelt wie der Kastanienbaum vor dem Fenster der Klinik, aus dem ihre Mutter am sechsten Tag nach ihrer Niederkunft, als ein Brand ausgebrochen war, springen wollte, um den kürzesten Fluchtweg in die Baumkrone zu nehmen - ein Motiv, das später der Tochter beträchtliche Kopfschmerzen bereiten sollte, in wiederkehrenden Zyklen, vor allem beim Backen von Nuss- und Kastanienkuchen, deren Rezepte einigen Einfluss auf die Familiengeschichte genommen haben, was verdeutlicht, dass es nur ein kleiner Schritt vom Mutterkuchen zu Lebensrezepten ist, und dass, wer Rezepte liest, fast zwangsläufig bei Lebensgeschichten landet. Mitteleuropäische Konditoreien sind also, wer sich durch das Dunkel ihrer Geheimnisse zu tasten wagt, eine Bibliothek von Biografien, die, zugegeben, oft Kopfzerbrechen bereiten.
Doch sind es nicht einfach ironisch-skurril-absonderliche und gut erfundene Geschichten, das wäre doch etwas zu seicht. Die Matanovic ist keine verspielte Hedonistin, sie meint es ernst; das ist einer der kleinen, aber starken Unterschiede vieler Postmodernen im Osten. Deswegen können bei ihr Geschichten ins Tragische kippen und bis ins Mark traurig sein. Ob das die Jungmädchenrivalität mit Ljubica um einen Kerl ist, deren Dimension erst verständlich wird, als sie viel später Ljubicas schwierige Biografie erfährt, oder die Selbstvorwürfe um den Tod Onkel Josips, eine dumm-tragische Begebenheit, wie, ja, wie sie eben wirklich nur das Leben ... sie findet auch für erschütternde und ergreifende Lebenssituationen einen tragenden Ton, der mitfühlend, distanziert und zugleich kräftig ist. So nebenbei kriegt man mit, dass ihre eigene Kindheit unter die Rubrik "schwierige Kindheit" fällt: Vater früh abgeseilt, bald auch die Mutter, da haben sich dann Tanten und Onkeln um sie gekümmert, Lehrerinnen und die Fussball spielenden Jungs von der Straße, die Nachbarn, die Pioniere, die Verwandtschaft aus allen Himmelsrichtungen und irgendwie immer jener Onkel, der Schriftsteller, die zentrale Person in ihrem Leben, den sie am Sterbebett "Vater" nennt, die "größte Lüge" ihres Lebens, die schönste und irgendwie traurigste auch. Denn Vater ist er ihr, weil er ihr so altmodische Dinge wie die Liebe zu den Büchern, Fantasie, den Sinn für das Schöne, die Achtung vor den Menschen und vor sich selbst vermittelt hat, lauter so altmodische Dinge. Vielleicht ist der Titel auch deshalb etwas zweideutig.
Zwischendurch ist mir Bora Cosic eingefallen, sein geniales Buch Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution. Da mag die Autorin ein paar Dinge ausgespäht haben, zum Beispiel die Lust am Benennen der Sachen, der Markennamen. Doch setzt sie wenig auf Pointen, sondern auf ihr Personal, dem, wie im Leben, nur jede dritte oder vierte Pointe gelingt, und das öfters recht dumm aus der Wäsche schaut. Aber sie denunziert ihre Figuren nicht, sie geht sehr sensibel mit ihnen um. Und so entrollt sich ein Panoptikum, nicht von Helden, sondern von Menschen, nicht von besonders durchschnittlichen, sondern von durchschnittlichen, doch besonderen. Und von einem im Weinfass Trauben stampfenden Mädchen, das berührende Geschichten vom Balkan erzählen muss.
Julijana Matanovic: Warum ich euch belogen habe. Roman. Aus dem Kroatischen von Barbara Antkowiak. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2000, 192 S., 34- DM
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