Karahasans essayistischer Roman Sara und Serafina handelt im belagerten Sarajevo, seiner Heimatstadt. Vom ersten Satz an spürt der Leser, hier schreibt ein Mensch, der mit der Anatomie der Stadt zutiefst vertraut ist, mit den Straßen, den Brücken, den Caféhäusern, den Ge schäften in der CarsÂija - mit all dem, was einem über Jahre und Jahrzehnte hinweg gewohnt wird, jene Objekte der äußeren Welt, die mit Gefühlen besetzt, mit Erinnerungen umwoben sind, so dass sie eingehen in die innere Welt des Autors, wo sie noch existieren, wenn sie in der Wirklichkeit schon längst niederkartätscht, zerstört, verschwunden sind. Ebenso vertraut sind ihm die Menschen dieser Stadt, obwohl es ihm mit ihnen genauso geht wie mit den b
Vom Verschwinden
TABLEAUS ÜBER DEN KRIEG Romane von Karahasan und Stevabovic über den Krieg in Bosnien
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ie mit den baulichen Objekten der Stadt, denn der Krieg verändert alles grundlegend; so sehr, dass der Ich-Erzähler, ein alternder Professor, am Ende ernsthaft daran zweifelt, ob er die Geschichte von Sara, einer Frau, deren Verschwinden er miterlebt hat, überhaupt verstanden hat. Diese ist allerdings nicht leicht zu verstehen, nicht nur für einen Professor, der, wie seine Frau feststellt, alles falsch auffasst, was mit Menschen zu tun hat. Denn in einer scheinbar einfachen Handlung explodiert geradezu eine komplizierte Biografie.Ein Professor der Zahnheilkunde hat sich aus Sarajevo nach Zagreb abgesetzt dank seines Bru ders, der dort lebt und Einfluss hat. Der Bruder ist mit einer Bosnierin verheiratet, die ihre Schwe ster Serafina Bilal und deren Tochter Antonija ebenfalls aus Sarajevo herausholen möchte. Der Prothetikassistent Dubravko Horvatin erhält einen Brief seines Professors mit Anweisungen, ein kroatischer Vertrauensmann werde die Ausreise organisieren, notwendig seien Taufscheine für alle Ausreisewilligen. Dubravko will mit, der Erzähler möchte seine Frau mitschicken, Antonija ihren Verlobten Kenan mitnehmen - eine bunte Truppe. Sofort gibt es Probleme, denn Serafina, die sich Sara nennt, will die Stadt nicht verlassen. Auch für die Frau des Erzählers kommt eine Trennung nicht in Frage. Dann fliegt noch der Mann auf, der für Kenan die gefälschten Papiere hätte beschaf fen sollen, so dass schließlich nur Antonija und Dubravko ausreisen. Die Beziehung des jungen Paa res scheitert, denn weder Antonija noch Kenan unternehmen Schritte, die räumliche Trennung zu überwinden. Kenan meldet sich freiwillig zum Militärdienst, wird verwundet, Armamputation. An tonija in skribiert in Zagreb, wird aber nach Neuseeland auswandern, wie sie ihrer Mutter in einem sehr langen und sehr gleichgültigen Brief mitteilt. Sara zieht aus ihrer Wohnung weg, die sie an Antonija und die anderen Verluste in ihrem Leben erinnert und stürzt sich in die Sozialarbeit im Stadtviertel Bistrik. Bis zu jenem Brief, der sie aus der Selbstvergessenheit reißt. Verzweifelt spa ziert sie auf der Kreuzung der Heckenschützen.Diese Handlung ist überschattet vom Krieg, sie kommt nur durch ihn zustande. Der Krieg schafft nicht nur eine Atmosphäre permanenter Angst und Todesbedrohung für das Überleben. Er bewirkt auch stets dramatische Situationen und schwere moralische Konflikte. Um sie wird viel ge redet in diesem Buch, und das Reden scheint dem Militärischen entgegen gestellt zu sein als Mög lichkeit ziviler Konfliktlösung - so ohnmächtig es auch angesichts des tragischen Endes verpufft.In diesen Gesprächen baut Karahasan grundsätzliche Positionen auf. Das Leben als etwas Fremdbestimmtes, von unbekannten Mächten Determiniertes, ein Experiment, in dem die Men schen, zu Ratten degradiert, sich wie Ratten verhalten: so sieht es der Professor, der Intellektuelle, der Mensch der Theorie. Sein Freund, der Polizeioffizier Dervo Perina, der an der Front kämpft, spricht zwar auch einmal von einem Experiment, das ein sehr Mächtiger mit ihnen durchführt; doch käme es darauf an, ob man sich als Mensch verhält. Sara hingegen mit ihrer äußerst ambivalenten Biografie stellt sich letztlich auf den anderen Pol. Als kleines Mädchen war sie 1942 ihrer jüdischen Freundin gefolgt, als diese von den Nazis auf einem LKW zur Deportation verladen wurde. Ihre Schwester und ein Onkel hatten sie damals gerade noch gerettet. Nun wirft sie die Serafina ab: "Ich wollte nie Serafina sein: praktisch, nützlich, realitätstauglich, immer zur Hand und immer zu Dien sten, bis man davon total beherrscht und verschluckt wird. Eine Güte, die tyrannisiert, ein Geben, das nur an sich selbst denkt." Als Sara sucht sie das "selige Verschwinden", es ist ein erschüttern des.Manches mag an diesem Buch verschraubt, auch sehr essayistisch wirken. Der Theatermann Karahasan hat versucht, den philosophischen Essayisten Karahasan dramaturgisch zu gestalten. Es geht ihm weniger um eine Kriegsstory, sondern um Gedanken, Gespräche und Abhandlungen über die Conditio humana in Zeiten des Krieges an einem so vielschichtigen Ort wie Sarajevo. Von dem schon viel verschwunden ist, das aber ebenso wenig wie Sara aus Bosnien weggehen kann.Der Herbstkatalog des Residenz-Verlags, glatt geschorener Pudel an der kurzen Leine des staatlichen Österreichischen Bundesverlags, erfüllt alle Erwartungen für Flachtaucher. Die derzeit noch spannende Backlist wird in den nächsten Jahren mit Programmen wie dieses verwässert wer den. Natürlich weiss die neue Geschäftsführung ihre Spasskultur zu rechtfertigen. Bücher wie der Roman des serbischen Autors Vidosav Stevanovic Mit offenen Augen lassen keine Kassen klingeln. Außerdem, schauen Sie sich mal dieses Autorenfoto an, solche bärtigen Miesmacher sind nicht mehr gefragt. Und von wegen Roman: Das Buch ist nichts anderes als ein Mittel zur Förderung von Magengeschwüren.Das Buch bedrückt. Es wurde 1993 bis 1995, also während des Bosnienkrieges geschrieben. Stevanovic versucht gar nicht erst, eine große Geschichte aufzuziehen. Alles ist unüberschaubar, fragmentiert, ein zerstörtes Gelände, auf dem Menschen herumirren, Glücksritter und Traumati sierte, Wahnsinnige und Ideologen, Existenzen, die der Krieg aus der Bahn geworfen hat. Schon in seiner Romantrilogie Schnee und schwarze Hunde (dt. 1995) hat er ein eindringliches Tableau über den Krieg auf der "Insel Balkan" entworfen: kein Ganzes, denn die Welt "ist in Einzelteile zer fallen, in ein Chaos kleiner, miteinander nicht verbundener Tatsachen".Dem Trümmerfeld des Kriegsschauplatzes unterlegt Stevanovic eine Struktur, die einer Ver suchsanordnung ähnelt: Fünf Personen in einer Stadt im Kriegsgebiet, fünf Personen, die emigrieren konnten und, meist unter falschen Namen, in Paris untergetaucht sind. Nichts verbindet sie persön lich, was sie zu diesem Buch zusammenführt, ist der Krieg: "Der Krieg ist nur die Fortsetzung des Krieges. Das Ende eines Krieges ist der Beginn eines neuen. Das ist ein Kreis, meine Herren." In einer dritten Stadt wohnt die elfte Person, der Schriftsteller, der als Pseudonym die Namen der zehn anderen Personen trägt. Er inszeniert das Spiel, das um Krieg, Waffenhandel und Prostitution kreist, aber auch er ist ein Verfolgter. In zwölf Kapiteln ("Kreise") entrollt er kleine Geschichten der Zehn, Geschichten, die aufblitzen lassen, dass es irgenwann auch etwas anderes gegeben hatte, das ganz normale Leben, Familie, Freundschaften, Liebe, ein bürgerlicher Beruf, Studium. Der Junge Simon hatte eine Katze und einen Vater und eine Mutter, als die Soldaten kamen, den Vater umbrachten, dann die Mutter vergewaltigten und ermordeten. Simon fanden sie nicht, er hatte sich in einem Schrank versteckt, er hatte sich von seinen Eltern losgesagt, er war nicht mehr ihr Sohn, er war ein einsamer Junge geworden, auch die graue Katze war abgehauen, und seit dem Vorfall konnte er die Augen nicht mehr schließen. Irgendwann auf seinen Streifzügen durch die verwüstete Stadt wird er ins Okular des "Sechsten" geraten, eines Scharfschützen, der jede Woche seinen Sold in DM ausge zahlt bekommt und dann einen Festtag mit Cremeschnitten einlegt. Der Profikiller hat keine Ge schichte, er konzentriert sich ganz auf sein Gewehr, auf seinen Finger und auf seine Ziele, bis auf gelegentliche Träume von Konditoreien und Huren steht er im Hier und Jetzt. Dagegen versucht der Blinde, sich zu erinnern, er war nicht immer blind, eine Granate hat ihm das Gesicht zerrissen, und manchmal rekonstruiert er, der einmal Maler gewesen war, was Farben sind, aber was bedeuten ei nem Blinden schon Farben? Einmal wird er wieder malen, die gebärende Sela wird in ihm eine Er innerung auslösen, die ebenso schnell wieder ausgelöscht werden kann. Ähnlich wie auf der Emi grationsschiene laufen sich einen Augenblick lang ein paar Personen über den Weg, kommen plötz lich überraschende Verknüpfungen zustande, schon deutet sich eine Auflösung der starren Anord nung, des Nebeneinanders der Geschichten an. Doch kein Schriftsteller kann vom Turm seines Ob servatoriums aus ein kleines Welttheater aufführen, das die Zerstörung der Zivilität durch den Krieg und die extreme Atomisierung aufhebt. Stattdessen greift Stevanovic mit einem Epilog korrigierend ein, einige Personen werden verschwinden, andere werden auf den Plan treten, ähnlich Vereinzelte, vom Krieg Gezeichnete. Als Heuchler bezichtigt er sich selbst, kreist sein Schreiben doch hilflos um die unbeschreibliche Wirklichkeit.Dzevad Karahasan, Sara und Serafina. Roman. Deutsch von Barbara Antkowiak. Rowohlt Berlin, Berlin 2000.194 S., 29,80 DM.Vidosav Stevanovic: Mit offenen Augen. Roman. Aus dem Serbischen von Bärbel Schulte. ÖBV-Residenz, Salz burg und Wien 2000. 174 S., 39,- DM.
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