Berliner Abende

FEEDING ME SLOWLY Wir haben Hunger. Wir haben es eilig. Wir haben einen Termin. Doch an diesem Tag scheint endlich der Frühling ausgebrochen zu sein. Raus aus dem ...

Wir haben Hunger. Wir haben es eilig. Wir haben einen Termin. Doch an diesem Tag scheint endlich der Frühling ausgebrochen zu sein. Raus aus dem vereisten Berliner Hundehüttchen. Milde Luft mit leichtem Blütendeo umschmeichelt die Nasen. Die Dämmerung färbt den Abend blau. Da niemand so genau weiß, ob die Mittel unserer kleinen Stadt für einen gediegenen Frühlingsanfang noch lange reichen, beschließen wir das Ereignis gebührend zu begehen und zwar zu Fuß. Denn Schönheit und Eile schließen einander aus, wie ein japanisches Sprichwort kundtut.

Einem vergoldeten Lampion gleich, hängt der gute Mond über uns und leuchtet. Er bescheint allerlei Volk, das die gleiche Idee hatte. Eine Karawane von Kinderwagen, Fahrrädern, keuchenden Läufern zieht langsam die Uferpromenade entlang. Boule-Spieler schieben eine ganz ruhige Kugel und kurz beneidet man die Schwäne, die so störungsfrei durch das dunkle Wasser des Landwehr-Kanals gleiten. Am Ufer des Urbanhafens ankern schwimmende Restaurants. Von der Iskele, ehemals Pik-As, weht der Duft gegrillter Dorade herüber und erinnert schmerzlich daran, dass der Mensch wohl nicht vom Wort allein lebt. Da trifft sich gut, dass die Imbisskultur im schönen Kreuzberg längst aus den Niederungen des Hähnchen-Döners auf eine höhere Entwicklungsstufe gestiegen ist. Hm, lecker! Mein Begleiter wässert sich den Mund mittels Imagination eines feisten Hamburgers aus kontrolliertem Anbau. Ich zöge ein Gemüsegericht vor. Weiß der Teufel warum, der Hamburger setzt sich durch. Lasst uns zum Neuland-Imbiss ziehen. Der Blick durch das Fenster offenbart zwei weitere Anwärter auf ein Stück dekoriertes, biologisch-dynamisches Rind. Das sind nicht viele. Die Zeit haben wir.

Frohgemut betreten wir das Etablissement und formulieren unsere Bestellung. Doch gemach, die exklusive Zubereitung und Umwandlung von glücklich gewesenen Rindern in Glück versprechende Hamburger kostet Zeit. Das Material wird gewendet. Liebevoll beklopft. Jede neue Zutat muss angefragt und abgenickt werden. Wir sehen uns missmutig an, seufzen einstimmig und nehmen mit Bedauern unseren Auftrag zurück. Die Zeit wird deutlich knapper. Nur zwei Schritte zurück und schon betreten wir ein ansprechendes Ladenlokal mit Speisen südostanatolischer Provenienz. Ein schöner Zufall oder unsere persönlichen Götter haben den Imbiss für uns komplett leergeräumt. Triumphierend ordere ich bei dem auffallend gut aussehenden Imbissmann einen Gemüsespieß, während mein Begleiter sich ein Lammteil opfern lässt. Dann lassen wir uns, voll des Lobes, an einem geschmackvollen Imbissmöbel nieder. Hier weiß man: die Augen essen mit. Plaudernd kommentieren wir vorbeischlendernde Paare, gaffende und sichtlich animierte Passanten, aus deren Verpuppung wir gerade geschlüpft sind.

Hinter unseren Rücken klappen Schranktüren, dann raschelt Papier. Erfreut wenden wir uns dem Geschehen zu und sehen wie die blitzende Schneide einen Champignon zerblättert. Wiederum klappen Türen. Nun wird ein Stück Zucchini sorgfältig aus der Alufolie geschält und zerteilt. Maß für Maß. "Akkuratesse in der Küche ist doch etwas Wunderbares", bemerke ich zu meinem Begleiter, dessen freudige Erwartung vom Schatten eines Zweifels getrübt wird. Glänzend violette Auberginen werden nun vom Chef de Cuisine aus dem Kühlschrank auf die blitzende Arbeitsfläche gebettet. Das Schneidebrett mit Küchenkrepp von den Zucchiniresten gereinigt. Und so geht es fort. Der Sand rinnt durch die Uhr. Langsam aber sicher verzweifelnd sehen wir dem Imbissartisten zu, wie er meinen Gemüsespieß zubereitet, ach was, zelebriert. Jede Gemüsesorte wird auf einen separaten Spieß sortiert. Der Grill wird angeheizt. Lustige blaue Flammen brennen hinter den kreisenden Spießchen, deren Bewegung sorgfältig beobachtet werden muss. "Er hält sich für Bocuse", bemerkt mein Begleiter in anklagendem Tonfall. Er holt sein Kirmesührchen aus imitiertem Schlangenleder mit Weckerfunktion aus der Hosentasche. Erst deutet er vielsagend aufs Zifferblatt. Dann tippt er mit demselben Finger mehrmals an die Stirn. Er zischelt Zorniges, aber leise, leise. Niemand beißt die Hand, die ihn füttern soll, besonders wenn`s schnell gehen soll. Mit knirschenden Zähnen wird den ersten Vorbereitungen zur Realisierung der Idee eines Lamm-Kebabs beigewohnt. Wunderbar anzuschaun, ohne Frage! Aber steht der Aufwand im rechten Verhältnis zum Ergebnis, zum Preis, zum Tempo, in dem unser Gebiss das Gericht zermalmen wird? Der Magen knurrt sehr laut und schreit nach Snack-Attacken. Ein Geistesblitz! Meine Augen suchen nach der Schnecke, dem Wappentier der Slow-Food-Gemeinde. Und während ich endlich schmatzend in ein first-class Gemüse-Kebapb beiße, höre ich neben mir ein äußerst gereiztes: "Hab`s satt!"

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