Seit Ost- und West-Deutschland sich freundfeindschaftlich übernommen haben, ist viel Wasser den Rhein und die Oder hinuntergeflossen. Gar keine Frage. Und was ist nicht alles gesagt und geschrieben worden über dieses Land, das verschwunden sein soll und den Daheimgebliebenen so viele neue Leben beschert hat, die sie doch oft gar nicht haben wollten. Inzwischen ist Gesamtdeutschland eine geschichtsvergessene Zweck-WG, deren Bewohner sich über Haushaltskasse und Kühlschrankinhalt in die Haare geraten. Aber doch voller Geschichten, die man sich in der Küche erzählt. Denn der Osten vergeht nicht so schnell, auch wenn das sozialistische Vaterland untergegangen ist. Das kann weder an Carmen Nebel, die Honecker den 40. Jahrestag musikalisch verzierte, noch an unserer Bundeskanzlerin liegen, einst FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda. Auch nicht wirklich an bayerischen Regisseuren, die sich mit ihren schmalen Perspektiven auf die DDR-Geschichte in Hollywood die Oscar-Reife erarbeiteten.
Regalmeter können wir abschreiten, gefüllt mit lustigen und traurigen Romanen, ergreifenden Biographien, die erklären und verklären, auch scharfsinnigen, politischen Analysen von Umbruch und Vereinigung. Geht unbemerkt von uns etwas unter in diesem breiten, bunten Erzählstrom, das weichgespült oder einfach mitgerissen und ertränkt wird? Jeder hat einen anderen Blick auf die jüngere deutsche Geschichte. Doch wozu stehen nun zwei Bücher mehr im deutschdeutschen Katalog? Welche guten Gründe haben die Tagespiegeljournalisten Robert Ide und David Ensikat bewogen, zu Heimatforschern zu werden? Sind sie nur jung und brauchen das Geld?
Es ist zum Lachen: Am Anfang steht Robert Ide mit seinem Freund Ricardo vor der Tür eines angesagten Clubs in Berlin-Mitte. Der Türsteher schüttelt abweisend den Kopf. Nach kurzem Zögern sagt er: "Na gut, komm rein. Ich glaube, Du warst schon mal hier." Wie recht er hat. Denn vor langer Zeit, in einem verschwundenen Land hieß das "Weekend" "Haus des Reisens". Hier besuchte der kleine Robert einmal im Jahr seine Mutter, die bei Interflug Reisen verkaufte.
Es ist zum Weinen: Robert Ide muss ihn einfach haben, den kleinen Interflug-Kulturbeutel, und zahlt im Ostalgieladen einen horrenden Preis für diesen Gimmick seiner Sehnsüchte. "Spuren von damals haben einen seltenen Wert, der spielerisch behütet wird - damit nicht auch noch das Fernweh nach der Heimat verschwindet". Ihm ist das vollkommen klar. Aber als er seiner Mutter das Fundstück strahlend präsentiert, schüttelt die traurig den Kopf: "Warum hast Du mich denn nicht gefragt. Ich habe noch fünf solcher Taschen im Schrank". Sie kann das gar nicht komisch finden. Ihr Arbeitsplatz, ein wichtiger Bereich ihres Lebens, ist mit den Maschinen von Interflug den Bach hinunter gegangen. Kein Sketch für die Ostalgie-Show, sondern der Ernst des Lebens.
"Aufarbeiten" sei für sie das "Scheißwort des Jahrtausends", sagt die Jugendfreundin. Aber das Kulturbeutel-Desaster lässt Robert Ide keine Ruhe. Warum sind seine Eltern und er sich so fremd geworden? Ist es der banale Generationenkonflikt? Hat erst die Wiedervereinigung sie getrennte Wege gehen lassen? Ide stellt die Frage sich und seinen Eltern. Er diskutiert mit seinen Freunden. Fragt nach ihren Erfahrungen und reist an altbekannte Orte, verknüpft Analysen, Statistiken, Reportagen und Erinnerungen zu einer kleinen Erzählsammlung. Denn Vater und Mutter antworten nicht. Um sie doch hörbar zu machen, vergewissert sich der Autor schnell noch einmal seiner Geschichte, soweit sie auch die ihre gewesen ist. Er zeigt sich als kleinen Jungen, der unter den irritierten elterlichen Blicken einmal den Berufswunsch "Erich Honecker" notierte: Klasse Hornbrille, Kämpfer für den Frieden und nicht zuletzt Staatspate für Drillinge. Damit hatte der Staatsratsvorsitzende ihm schwer imponiert. Als Jugendlichen, der mit den Erziehungsberechtigten haderte, als sie ihm das Wehrerziehungslager verweigerten und damit seinen Traum vom Journalistenberuf zerplatzen ließen. Er ist doch noch Journalist geworden.
"Jede Fusion hat ihre Verlierer", war der ungerührte Kommentar der Generation Golf. Robert Ide ist ein Gewinner. Er war 14 als die Mauer fiel. "Genau das richtige Alter, um ein neues Leben zu beginnen". Hand in Hand mit Eltern und Schwester läuft er das erste Mal über die Bornholmer Brücke in den Westen; jubelnd durchqueren sie die Kontrollanlagen. Drüben angelangt deutet die Mutter entsetzt auf die abgeranzten Weddinger Altbauten und ruft: "Hier sieht es ja aus wie bei uns." Der junge Robert zieht aus, den anderen, den glitzernden Westen zu erobern. Aus der Ferne registriert er, wie die Lebenskoordinaten seiner Eltern verrutschen. Heute fragt er sich fast schuldbewusst, ob sie mehr verloren als gewonnen haben.
Immer wieder sonntags trifft sich heute die Familie im Schrebergarten direkt an der alten Staatsgrenze. Aber seltsam: Nicht die frisch gemachten Erfahrungen werden diskutiert und miteinander geteilt, sondern die stark riechende Konserve "ostdeutsches Gemeinschaftsgefühl" geöffnet. Die "Erinnerung an ein Leben, von dem der Westen sowieso keine Ahnung hat", resümiert Robert Ide. Aber er weiß doch ganz genau, dass es wenigstens hier im Schatten der abgerissenen Mauer, beim lauschigen Kaffeetrinken nicht um Gewinn- und Verlustrechnungen gehen soll.
Sein Tagesspiegel-Kollege David Ensikat, 1968 in Ostberlin geboren, sieht offenbar die Notwendigkeit einer kurzen und knackigen Geschichte der kleinen DDR, erklärt für die nicht Dabeigewesenen, auch für die Jugend. Vielleicht nerven ihn zuweilen Neffen, Nichten oder eigene Kinder mit albernen Fragen. Wie angenehm wäre es dann, hinweisen zu können auf die leichte und unterhaltsame Einführung in den "seltsam-skurrilen, oft beengten und doch erstaunlichen Alltag" im Sozialismus. Ensikat, er hat Geschichte studiert, beginnt seine flotte Grundlagenforschung mit dem Stichwort Sozialismus. Natürlich. Denn ohne die Idee von der gerechten Welt hätte es die DDR, 21 Jahre lang seine Heimat, nicht gegeben. Die Sozialisten wollten, dass der Reichtum nicht nur wenigen gehört, wie im herrschenden Kapitalismus. Und es gab sogar ein Land, in dem diese gute Idee verwirklicht werden sollte, das war die Sowjetunion. Leider kamen in Deutschland 1933 die Nazis an die Macht. "Der Nationalsozialismus war ein wahnsinniges System, das in den Krieg führte. Denn die Nazis meinten, die Deutschen seien das beste und stärkste Volk der Welt, das andere beherrschen müsse. Als sie den Krieg verloren, wurde den meisten Deutschen klar, daß das ein furchtbarer Irrtum gewesen sein müsse."
Geschichtslehrer Ensikat bemüht sich, auf wenig Papier komplizierte Sachverhalte für alle verständlich zu machen. Papier war schließlich Mangelware in der DDR, wie er sicher von seinem Vater, dem Theaterdichter und Kabarettisten Peter Ensikat früh erfahren hat. Aber er kann es nicht. Seine Versuche, geschichtliche Ereignisse und komplexe Sachverhalte auf Kurzdefinitionen einzudampfen, produzieren bedauerlicherweise nicht nur heiße Luft sondern gefährlich geschichtsfälschende Vernebelungen. Der blasse König Honecker, Modrow, der Fußballer Falko Götz oder die Frage, warum die Ostdeutschen immer noch anders sind, wird mit dem, was von der DDR sonst noch übrig blieb, in einen Topf geworfen und kräftig umgerührt. "Außer den Erinnerungen in den Köpfen, den Büchern und den Filmen ist nicht viel geblieben von diesem kleinen Land, das eine große Mauer bauen musste, damit ihm die Leute nicht davonliefen. Von der Mauer gibt es nur ein paar kleine Stücke, an Stellen, wo sie nicht weiter stören. Dort sollen sich die Leute an die merkwürdige Zeit erinnern, in der Deutschland in zwei Länder geteilt war." So beschließt David Ensikat seine kleine Handreichung zur Geschichte der DDR. Ob der Autor vielleicht bloß eine Satire schreiben wollte? Um die Volksverdummung hat er sich jedenfalls verdient gemacht.
Robert Ide: Geteilte Träume. Luchterhand Literaturverlag, München 2007, 220 S., 14,95 EUR
David Ensikat: Kleines Land, große Mauer. Piper, München 2007, 208 S., 16,90 EUR
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