Das Valium des Künstlers

Geschmackszöllner In seinem Tagebuch-Buch "Wenn man einen weißen Anzug anhat" unternimmt Max Goldt sinnlose Ausflüge durch Deutschland

Das schöne Wort "Mittwochsmemme" für Menschen, die nicht angespornt durch cineastische Neigung, sondern aus blankem Geiz im Kino sitzen, nur und ausschließlich aus dem Grund, weil Kinotag ist, und seinen unwiderruflichen Eingang in unseren Wortschatz, verdanken wir Max Goldt. Dies Faktum allein legt schon den Grund zur Seligsprechung. Und so kümmert es zunächst wenig, dass ihm anlässlich seines letzten Werks, der Titel eines Ehrenpräsidenten der Generation Golf wieder aberkannt worden zu sein scheint. Zu Ende gegangen sei es mit der störrischen Marktverweigerung, die gewiss, ja, mit der Zeit doch auch zu einer Verkaufsstrategie geworden sei, so klagte Florian Illies vor einiger Zeit in der FAZ. Schlimmer aber, dass nun, mit dem Tragen eines weißen, fleckenlosen Anzugs, auch die irrtumslose Zeit des Herrn Goldt perdu sei. Aber eine solche Zeit hat es nicht gegeben. Nie hat sich der Autor von Onkel Max´ Kulturtagebuch gescheut, mit jugendlicher Leichtigkeit gefällte Geschmacksurteile einer Revision zu unterziehen. Eine "Königin mit Rädern unten dran" hat eben noch in keinen Golf gepasst.

Seit Februar 1989 war Max Goldt in seinen Titanic-Kolumnen auf dem Weg von Bullerbü nach Babylon. Sensible Feldforschung am Fuß des Turms zu Babel, hieß sein Auftrag. Sprachentwirrung zu betreiben und Geschmacksverirrung zu beschreiben hatte er zu seinem Metier erklärt. Als Kolumnenmeister beobachtete er Personalpronomina bei unduldbaren Bedeutungsseitensprüngen, prangerte semantische Aufdringlichkeiten an und sammelte Wortspiele der Gegenwartskultur, die er produktiv verballhornte. "Durch und durch geschmeidig. Incredibly strong and snuggly soft. Extra morbido" Diese wunderbaren Packungsaufdrucke meiner Tempo plus Taschentücher wären ihm eine geschliffene Betrachtung wert gewesen.

Die Kunst, Begriffe einzuengen, war sein Zuhause. "Als gesetzesfester Zöllner an der Grenze des guten Geschmacks" meditierte er über die "Unfähigkeit zu frühstücken" und genoss seine "Gänsefüßchen-Courage". Er erörterte verständig die Entstehung von Kunst: "Kommt sie bröckchenweise oder fällt sie einen an?" Kurz: Max Goldt hat sich in seinen bisherigen Texten als sensibler Beobachter peripherer Gegenwartskultur und allzeit zartfühlender Raisonneur erwiesen.

Und nun? Was tut ein Ereignisverächter, wenn das neue Auftragstagebuch eine erste Seite aufschlägt und oben steht: 11.September 2001? Er schaltet das Fernsehen ein. Er schaltet es nach zwei Stunden Starrens aus. Er wandert leicht weggetreten durch die Wohnung. Er öffnet sinnlos Schubladen, betätigt sinnlos Lichtschalter, tritt sinnlos auf den Treter vom Trittmülleimer. Er lässt fürderhin die "eitlen Kommentarwichsmaschinen des öffentlichen Lebens" nicht ohne Mitgefühl in ihrer Vergeblichkeit links liegen. In den Tagen danach unternimmt er mit einem New Yorker Freund sinnlose Ausflüge durch Deutschland. Da lässt es sich nicht umgehen, in Restaurants zu speisen. Was wiederum dazu veranlasst, weitschweifig über Umgangsformen nachzudenken. Denn sie sind doch schlussendlich die Ingredienzien zur Erschaffung einer besseren Welt. Diese Erkenntnis posaunt Max Goldt zwar nicht laut heraus. Sie durchzieht seine Aufzeichnungen allerdings wie ein signalroter Faden. Da wird im Sitzen und Stehen mit Berühmtheiten konversiert, beim Verzehr öliger Antipasti mit Frau Rutschky das Projekt eines Benimmbuchs für die Jugend besprochen. Der Autor lässt vor den Lesern Listen unbrauchbarer Wörter aufmarschieren, salutiert, kanzelt harsch die "im Endeffekt-Sager" ab und sagt dann leise, wie nebenbei: "Ich würde übrigens niemals aufhören, jemanden zu lieben, nur weil er eines der eben aufgezählten Wörter benutzt."

Max Goldt hat ein Tagebuch geschrieben mit "formalen Mogeleien sämtlicher Art". Es ist, und das gehört zu ihm wie das Umweltsäckchen, eine Anstandsfibel, ein kurzweiliger Katalog mit geprüften Geschmacksurteilen samt kratzbürstiger Lesereisebeschreibung. Was ist zu beanstanden, wo doch wir, die Generation Goldt, unserem Sympathieträger selbst die Anrede: "Liebe Schwarzseher!" schon verziehen hatten? Nicht, dass seine Urteile milder geworden, sein berüchtigter Witz feiner dosiert ist und Abendlicht die scharfen Ecken und Kanten der Kolumnen weichzeichnet, gibt Anlass zu wehmütigen Blicken zurück. Der viel gelobte Kolumnist und Vortragskünstler ist sich offenbar seiner selbst unsicher geworden. Das geneigte Publikum lacht über Wörter. Das muss gegeißelt werden. Biografiewirksames wird kokett in die Lampe gehalten. Dabei ist gar nichts passiert. Das hat der Autor schon einmal schöner gesagt: "Applaus ist eine Wohltat, aber die Phrase, er sei das Brot des Künstlers, ist unzutreffend. Applaus ist das Valium des Künstlers. Das Publikum honoriert immer eher den Stillstand als den Wandel." Das ist wohl wahr. Der Weg zwischen Stillstand und Wandel ist steil, steinig und kurvenreich. Aber wir sind überzeugt, Max Goldt, gefeierter Kritiker abgeschmackter Wortverdrehungen, wird ihn gehen.

Max Goldt: Wenn man einen weißen Anzug anhat. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2003, 158 S., 16,90 EUR

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