Warum klebe ich an diesem gepolsterten Sessel? Wieso beglotzt mich ein gewaltiger Eisbär aus Meißener Porzellan? Wie komme ich in diesen Salon? Oder Salohn, wie die Dame des Hauses flötete, als sie mit ausgestreckten Armen auf mich zugeeilt kam. Wir sagen doch Du. Ihr gespitzter welker Mund küsste Willkommensgrüße in die Luft.
Der Wagen war in die Einfahrt geknirscht. Tief einatmen, ausatmen, aussteigen in den schwülen Frühsommerabend, das quietschende Gartentor durchschreiten. Hier auf dem Pfeiler saß ich immer, sagt M. bedeutsam. Aha! Und hab die vorbeifahrenden Autos gezählt. Hmm. Noch einmal kurz die Nase in die zartduftenden Rosenkelche stecken. Über der Tür umringelt eine Schlange zwei Jahreszahlen. "Hab ich noch nie gesehn", sagt M. leicht erstaunt, während er den Klopfer aus dem messingschimmernden Löwenmaul heruntersausen lässt. Der Summer ertönt. Wir stehen in einem kleinen dämmrigen Foyer. Drei geschlossene Türen vor uns: Altmodische Porzellanschilder besagen: Anmeldung, Röntgen, Behandlungszimmer. Es riecht nach Lysol und Latexhandschuhen. Genau wie früher, stellt M. nervös fest. Wir steigen die knarrenden Stufen hinauf. Die Tante eilt mit ausgestreckten Händen herbei. "Wir sagen doch Du." Ein gespitzter Zwetschgenmund küsst Willkommensgrüße in die Luft. In ihrem Windschatten nähert sich der Schwiegervater, die Hände betont lässig in gebügelten Cargohosen. Er breitet die Arme halb aus und lässt sie wieder sinken, reicht mir die Rechte, zieht sie zurück. "Lasst uns in den Salohn gehen", drängt das Geburtstagskind. M.s Schwestern sitzen schon wie angeschraubt auf schwarzem, reichbeschnitztem Polstermobiliar. Goldene Bilderrahmen, Brokatvorhänge, kleine Blumenbänke vor der Heizung und überall verteilt die Porträts von fremden Lebenden und Toten. Die Schritte rutschen über handgeknüpfte Perser. Erleichtert lasse ich mich in einen Armsessel niedersinken um sofort wieder hochzuschnellen. "Hier sitzt der Opa!"ruft die Gastgeberin. Die kleinen Großnichten schwirren in ihren bunten Sommerkleidern wie Kolibris durch die geöffneten Flügeltüren. Der vierzehnjährige Bruder nestelt verlegen an seiner Bart-Simpson-Krawatte, lehnt sich haltsuchend an die Gründerzeitkredenz. Von oben glotzt der Eisbär.
Da sitzt nun die siebzigjährige Jubilarin, Studiendirektorin, ledig und a. D., ihr Bruder, dessen Sohn und Töchter, die Enkel. Im Salohn. Um einen weißgedeckten Tisch herum. Es ist heiß. Alle schwitzen. An den Wänden hängen russische Winterlandschaften. Denn die Großmama, in deren unversehrter Dekoration wir Platz genommen haben, ist vor den Roten aus Petersburg geflohen. Es ist sehr warm. Ich betrachtete das Silberbesteck. Eine Schlange ringelt sich darauf um einen Stab. Die Standuhr schlägt zehnmal. Die älteste Tochter öffnet die Tür zum Balkon. Eine schwache Abendbrise weht durchs Zimmer. Befreites Aufatmen. Zuggeräusche von fern, die Tante springt auf. Mit einem Ruck schließt sie die Tür. "Dein Vater versteht sonst nichts. Er hört nicht gut." Er ist extra aus British Columbia eingeflogen. Zum Fest seiner Schwester. Er sitzt mit ihr in Mutters Wohnzimmer. Hier ist er geboren. Hier hat er drei Kinder gezeugt. Hier hatte er sein Sprechzimmer.
"Warum hast du eigentlich meine Eisenbahn verkauft?" fragt M. Der Vater ruckelt unbehaglich in seinem Sessel. "Und wo sind die alten Lederschwarten und die Soldaten?", fallen die Schwestern ein. Der alte Mann öffnet seinen Mund, hebt die Arme, zuckt die Achseln. "Alles verschleudert." Er versucht ein nonchalantes Lächeln, das schon im Ansatz verrutscht. Die Tochter hebt ihren Fotoapparat vors Auge dreht lange am Objektiv und drückt schließlich auf den Auslöser. Auch ihr Vater hat einen Fotoapparat in der Hand. Er beugt sich zu M. "Habt ihr Bilder von eurer Wohnung dabei?" M. schüttelt den Kopf. Der Vater steht auf, schlurft zum Klavier dreht sich um und knipst. M. hat auch einen Fotoapparat in der Tasche. Die Tante hebt hinter dem Vater den Arm und deutet mit dem Zeigefinger mehrmals auf ihre Uhr. Sie schaut die Nichte an. Die ignoriert sie, schaut starr durchs Fenster in den verwildernden Garten. Ich knete verlegen mein Ohrläppchen. Die Kinder pusten feuchte Ponysträhnen aus den verschwitzten Stirnen. Ach, egal. Ich stehe auf und bewege mich wie in Filzpantoffeln an der Ahnengalerie vorbei, über das knarzende Parkett. Vor einer verschneiten Landschaft bleibe ich stehen. Ich lege die Hände im Rücken zusammen und betrachte die Holzbrücke über dem von der Sonne beschienenen, zugefrorenen Fluss. "Sieht aus wie neu, nicht wahr", sagt die Tantenstimme hinter mir. "Es ist runtergefallen. Eines Morgens lags auf dem Teppich. Der Rahmen war in tausend Stücke zersplittert. Wenn man´s nicht wüsste."
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