Stimmen im Bruch

Berliner Abende Kolumne

Mach halblang! Frau Nix betrachtet aufreizend gelassen mein jammervolles Mienenspiel. Zur Probenklausur mit dem Kirchenchor? Das ist doch eine lächerliche Übung für die von Klassenfahrten Gestählte. Huh! Mit diesem zusammengewürfelten Clübchen gekränkter Daseinszauderer irgendwo im Oderbruch? Mich schauderts. "Hilfe, die ungekrönte Königin der Eigenbrötler im Doppelstockbett!" Die Nix lacht aus vollem Hals und meine Zweifel an der Unternehmung wachsen. Denn Frau Nix schnarcht. Ich selbst kultiviere seit Jahren ein nächtliches Knirschen. "Das machen wir publik," sagt sie kühn. "Schon sind wir allein. Ja, so machen wir´s," beschließt sie. Doch wie heißt es in der Bibel: Mach einen Plan, und er wird zunichte. Wenn alle schnarchen, wen soll das noch schrecken?

Frau Nix schwenkt einen dottergelben Zettel. Noch ein Plan. Abfahrt. Okay. Ankunft. Aha. Probenraum vorbereiten. Jaja. Einsingen mit Josefa. Ja, was zum Zeus? Synchron ziehn wir die Brauen hoch: "Wer ist Josefa?" "Wo", sehen wir uns ratlos an, "bleibt die Frau Chefin?", die uns mit ihrem Marschbefehl: "Ich will einen funktionstüchtigen Chor!", in die prekäre Situation gebracht hat?

"Ärger im Anzug, meine Narbe juckt", sage ich nervös. "Memme!" fertigt die Nix mich ab. Denn hier sitzen wir: Eingezwängt zwischen polnischen Heimreisenden, den wahren Stützen der deutschen Gesellschaft. Kunstvoll umbaut von Tütengebirgen geht´s los in Richtung Küstrin. Nebenan trötet eine Runde von Stiefelträgern der Marke Trittfest. Entsetzlich viel Mensch auf engem Raum. "Es wird noch schöner", prophezeit Frau Nix, als wir endlich die paar Stufen zum Landheim hochsteigen. "Frrreundschaft!" grüßt sie zackig das rechts der Tür flammende Emblem der FDJ. Handgeschöpft das Wetter heute hier aus feuchtem, grauem Dauerniesel. Den kreischenden Kranichen scheint es sehr zu gefallen. "Ach Ibykus! Ihm schenkte des Gesanges Gabe der Lieder süßen Mund Apoll", kommentiert die Nix und grinst.

Was unseren Verein jedoch im Innersten zusammenhält, bleibt rätselhaft. Doch nicht der süße Mund Apolls, eher ein geheimes Leiden. Ich bin unschlüssig. Vielleicht eine kulturelle Mission oder doch die Heilige Cäcilie? Für die Nix liegt´s auf der Hand: "Dreh- und Angelpunkt", doziert sie, "ist stets die Leitung." Und ihre Stirn umwölkt sich.

"Allet schön bei euch?" Mit freundlichsten Mienen erscheint die Vorhut, während Frau Nix und ich wortlos aber gefasst unser Durchgangsvierbettzimmer in Augenschein nehmen. Beziehen knurrend Kissen und Decken mit gewagt gemusterten Restbeständen vom VEB Schöner Schlafen. Aber wollen wir schlafen? Frau Nix stellt mit Schwung zwei Flaschen gediegenen Rotweins auf den Tisch.

Draußen dunkelt´s im Röhricht. Eine einsame Amsel wippt im kahlen Geäst und schweigt dazu. Wir schlendern die paar Häuser weiter zum Landgasthof. Unter mildem Lampenschein meditiert Dr. Kauer über ihrem Humpen. Der weiße Bürstenschnitt leuchtet gegen das altblonde Tschechische Bier. Ihr zur Seite hockt die Stellvertretung, streng bezopftes Kirchenmusikerstöchterlein. Unsere Kapellmeisterin, ja die, sie zückt die Uhr auf Anfrage, brilliere just im Moment an der Domorgel. "Ach so", schnaubt die Nix. "Gibt´s doch Bekömmlicheres, als mit uns zu probieren." "Hm", sekundiert die Doktorin grimmig. Das sind schmerzliche Wahrheiten, die uns knirschen machen, somit auf der Stelle lokal betäubt werden müssen. Derart wattiert und künstlich besänftigt machen wir uns auf. Schon ist der nächtliche Vorhang gefallen. Da und dort blinkt ein Stern.

Schnüffelnd und naserümpfend versammeln die Choristen sich im Gruppenraum. Unterm frischen Laminat verwest aromaintensiv das versunkene Imperium. Die Ersatzkantorin wirft sich ins Zeug, "...bringt unsern Grenzen mit ihrem Glänzen." Vergebung, aber Frau Nix ist einfach missgestimmt. Niemand ruft barsch: Geplärre! Keiner droht mit Backpfeifen. Sie vermisst die bohrenden Blicke, die filigrane Bearbeitung ihrer Unzulänglichkeiten und seufzt.

Zehn Minuten vor Probenschluss klappt die Tür. Im Rahmen steht der alte Droschkenkutscher. Aus mysteriösen Gründen hat das verdiente Vereinsmitglied den Zug verpasst. Theatralisch stöhnend krückt sich Willi in Richtung Bass. Warm ist ihm geworden. Er knöpft seine knallroten Hosenträger ab, um den Wollpullover über´n Kopf zu ziehen. Da sausen die Beinkleider schon erdabwärts. Mit offenem Mund glotzt die junge Stellvertreterin, erträgt stoisch den herben Anblick entblößter Altherrenbeine. Rundum wiehert´s. Aber vornehm gedämpft. Kantors Härtetest, murmelt die Nix. Umständlichst und ungerührt erledigt Willi die Kleiderfrage, setzt sich endlich ruckelnd auf dem Stuhl in Positur. Blickt hoch: "Könn´ wir bitte noch mal die Basslinie da probieren", brummt er und lässt die Hosenträger schnalzen.


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