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Geschlossen Bärbel Reetz sucht in "Die russische Patientin" nach der Psychoanalytikerin Sabina Spielrein

In Sigmund Freuds berühmter Abhandlung Jenseits des Lustprinzips ist folgende Fußnote zu finden: "In einer inhalts- und gedankenreichen, für mich leider nicht ganz durchsichtigen Arbeit hat Sabina Spielrein ein ganzes Stück dieser Spekulation vorweggenommen." Freuds Formulierung ist leicht anzumerken, wie sehr der große Begründer der Psychoanalyse sich winden muss, einer klugen Kollegin die ihr zweifellos zukommende Bedeutung einzuräumen. Wer war diese scharfsinnige Frau, die auf dem dunklen Kontinent der Psychoanalyse offenbar zu den Pionierinnen zählte?

Da die Weltgeschichte nichts anderes ist als die Biographie großer Männer, wie einmal Thomas Carlyle so richtig bemerkte, freut es doch umso mehr, dass, erstaunlich genug, immer wieder in vergessenen Ecken der Welt staubige Kisten gefunden werden, die diesen historischen Kernsatz ein wenig zurechtrücken. Eine solche im Jahr 1977 ebenso überraschend wie zufällig aus den Kellerräumen des Genfer Palais Wilson gehobene Schatztruhe, wo einmal das Psychologische Institut untergebracht war, enthielt das Tagebuch, sowie zahlreiche Briefe einer gewissen Sabina Spielrein, die nicht nur im Briefwechsel zwischen Jung und Freud eine wichtige Rolle spielt.

Spielrein hatte zuletzt am Genfer Rousseau-Institut Psychoanalyse gelehrt, bevor sie 1923 in ihre Heimat Russland zurückging. Bis zu diesem Fund war von ihr wenig mehr bekannt als ein paar unvollständige biographische Daten. Von nun an wird sie in Fachkreisen als die Frau zwischen Jung und Freud berühmt und samt ihrer eigenen Fallgeschichte und Arbeit in die Geschichte der Psychoanalyse eingehen. Denn nicht zu vergessen: Sie war die Analytikerin Jean Piagets.

Alles beginnt in Zürich im Jahre 1904, wohin eine junge Russin sich von ihrer Heimatstadt Rostow am Don auf die lange Reise macht. Einerseits will sie hier wie viele andere studieren. Andererseits wollen die besorgten Eltern sie in der berühmten psychiatrischen Klinik Burghölzli untersuchen lassen. Unklar, was ihre gesundheitlichen Probleme waren, die schon früh, im Alter von 13 Jahren begonnen haben. Die Krankenakte ist nicht zugänglich. Weder die Art der Untersuchung, noch eine Diagnose, nichts über den Zustand der Patientin ist bekannt. Der aufnehmende Arzt ist der Secundararzt Dr. Carl Gustav Jung, der später im Rahmen eines Vortrags über die "Freudsche Hysterietheorie" auf den Fall eingehen wird. Der Psychiater Jung bricht das therapeutische Bündnis. Er gibt der verliebten Patientin nach und geht, obwohl verheiratet, ein enges Verhältnis mit ihr ein. Sie "wird das Medaillon in seinem Halsband von Verehrerinnen", so sein arroganter O-Ton. Jung hingegen wird für Sabina Spielrein der Fehler ihres Lebens.

Die 1942 geborene Bärbel Reetz hat versucht, sich dieser Frau erzählerisch zu nähern. Der Titel ihres Romans Die russische Patientin weckt die Assoziation an Michael Ondaatjes so erfolgreich verfilmtes Buch Der englische Patient. Im Anhang findet sich jedoch folgende interessante Anmerkung: Auf Wunsch der Erbengemeinschaft C. G. Jungs sei an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen, dass Die russische Patientin ein Roman ist, "dessen Thema zwar durch historische Fakten angeregt, im übrigen aber durch die literarische Imagination der Autorin frei gestaltet wurde." Da sind also eine Handvoll Fakten, einige Puzzleteile und ein höflich verbrämtes Verbot. Eine bessere Ausgangssituation für einen Roman kann sich kein Schriftsteller, keine Schriftstellerin wünschen.

Reetz lässt ihre Geschichte in Wien, der Geburtsstätte der Psychoanalyse beginnen. Im Wiener Kaffeehaus Dehmel sitzt eine Ich-Erzählerin, die sich jenseits der zugänglichen Briefwechsel und Tagebücher, auch jenseits von Jung und Freud, für Sabina Spielrein interessiert. Aber welches die ureigensten Gründe dieser Spurensuche sind, werden wir während des ganzen Romans nicht erfahren. Die Erzählerin reist von Wien nach Graz, dann nach Zürich, Berlin und München. Sie sucht all die Orte auf, an denen Spielrein lebte und erforscht die Wege, Gedanken, Gefühlslagen der Verschollenen. Sie will sich ein Bild machen. Der Roman beginnt als Tagebuch dieser Recherche und springt, die Form imitierend, hinein in das Leben der Sabina Spielrein.

"Hat sie hier gesessen? Eine Fremde wie ich", fragt die Erzählerin im Dehmel, eine Mélange schlürfend. "Oder hat sie Tee bestellt?" Und sie imaginiert ein bisschen herum über das schöne, reiche Leben der Spielrein im jüdisch-großbürgerlichen Zuhause, daheim in Rostow am Don. Dann stellt sie sich einen Mittwoch in der letzten Novemberwoche des Jahres 1911 vor. Da hat die Analytikerin Spielrein ihre Münchner Forschungsarbeit den Kollegen der Psychoanalytischen Vereinigung in der Wiener Berggasse vorgestellt: Die Destruktion als Ursache des Werdens. Ranks Protokoll notiert Freuds Zustimmung. Aber auch seine Sorgen über ihre "Ambivalenz". Und dass sie immer noch mit ihrem ungeklärten Verhältnis zum opponierenden Jung zu kämpfen hat.

"Selten, sage ich am Abend in der Wollzeile bei ›Plachutta‹, selten habe ich so viele Flüche aus der Feder eines jungen Mädchens gelesen wie in ihrem Tagebuch. Wir bestellen Tafelspitz mit Apfelkren. Marillenknödel. Trinken grünen Veltliner. Was ist aus ihr geworden? fragt Irmi. Erschossen, antworte ich." So hat die Erzählerin ihre Netze ausgelegt, und sicher werden hier des Stoffes kundige Leser und andere Affizierte sich hineinziehen lassen in die Geschichte einer faszinierenden Persönlichkeit. Die zudem verspricht, einen dunklen Fleck und wunden Punkt in der historischen Entwicklung der Psychoanalyse auszuleuchten.

Wer einen historischen Roman schreibt, der Schriftsteller Daniel Kehlmann hat mit Die Vermessung der Welt gerade mit Bravour vorgeführt, wie dies gelingen kann, muss mit Wirklichkeiten operieren, die er vom Faktischen zum Wahren transponiert. Er muss die wundersame Transformation vom Zeugen zum Erzähler und des Stoffs zur Geschichte leisten. Bei einer gut erzählten, fesselnden Geschichte fragt kein Leser, ob das alles wirklich stimmt. Bärbel Reetz hat mit Sabina Spielreins rudimentärem Lebenpuzzle spannendes Rohmaterial vor sich. Aber sie kann sich nicht entscheiden, welchen Roman sie schreiben will: den über eine historische Person oder den Roman, der die Spurensuche einer Erzählerin zum Thema macht.

All die Reisen dahin, wo Frau Spielrein einst lebte, arbeitete, liebte und verzweifelte, machen die Leser zu gut informierten Touristen in einem fremden Leben. Sie stehen davor wie vor einem geschlossenen Museum, aber keine Tür wird geöffnet und niemand führt sie hinein. Die Protagonistin hält alles fest über ihre Suche nach der bekannten Unbekannten, notiert ihre Ortsbesichtigungen, ihre Träume, die Schwierigkeiten, auf die sie bei Behörden stößt. Sie jagt einem flüchtigen Schatten nach, der trotz aller imaginierenden Fragen, Bildbetrachtungen und Zitate kaum an Kontur gewinnt. Es gelingt nicht, "den Entwicklungen Struktur und Folgerichtigkeit gerade dort zu verleihen, wo die Wirklichkeit nichts davon bietet", um noch einmal Kehlmann zu zitieren.

Selbst in den romanhaft konzipierten, lebendig erzählten Kapiteln kann sich Reetz nicht lösen von dem, was sie weiß. Das Gefundene wird verglichen, gar überdeckt mit der eigenen Lebensgeschichte - vielleicht ist es sogar die der Autorin -, und der Leser wird bis zum Ende nicht wissen warum. Da steht die Suchende am mutmaßlichen Grab der von den Deutschen Ermordeten und nennt sie: "Meine fremde Schwester" - als wäre es ihr eigenes Schicksal und der Roman nur eine pittoresk illustrierte Krankenakte. Die Psychoanalytikerin Sabina Spielrein erscheint darin nicht als Avantgardistin einer bahnbrechenden Wissenschaft, sondern nur als Opfer: als Patientin, als Frau, als Jüdin, als unheilbar Liebende.

Bärbel Reetz: Die russische Patientin. Roman. Insel, Frankfurt am Main 2006, 332 S., 19,80 EUR


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