Tochter aus betuchtem Haus

INNEN UND AUSSEN, FRAUEN UND MÄNNER Der Roman von Fattaneh Haj Seyed Javadi »Der Morgen der Trunkenheit«schildert ein Frauenschicksal im Iran

Die einzige Sportlerin des iranischen Olympiateams, Manieh Kazemi, trug beim Training einen wadenlangen Mantel, darüber ein schwarzes Maghnae, das geschlossene, über den Kopf zu stülpende Kopftuch der Schülerinnen. Selbst wenn die Pistolenschützin eine Goldmedaille errungen hätte, im Fernsehen können ihre Landsleute sie nicht bewundern. Keine Aufzeichnungen von Frauensport im iranischen Fernsehen. Auch Reisende haben sich für die Dauer ihres Aufenthaltes sowohl der staatlichen Geschlechtertrennung als auch dem Hijab, der islamischen Kleiderordnung, unterzuordnen. Es kann sehr unangenehm werden, den eigenen Ehemann im öffentlichen Raum zu berühren. Ungläubige möchte ich an den Fall Hofer erinnern. Sexuelle Beziehungen zwischen einem verheirateten, nicht-muslimischen Mann und einer Muslimin werden nach geltendem Recht mit dem Tod bestraft. Nur mit Ehemann, Vater oder Bruder darf eine Frau sich in der Öffentlichkeit zeigen.

Im nachrevolutionären Iran bekamen die schon immer getrennten Bereiche zwischen Privatheit und Öffentlichkeit neue Bedeutung. Nachdem die staatlichen Kontrollorgane, die Pasdaran, die Wächter der Revolution, ihre Aufmerksamkeit aus dem Innern der Wohnungen verlagert haben, leben viele Menschen, besonders aus Mittel- und Oberschicht, zu Hause wieder wie vor der islamischen Revolution. Traditionell waren iranische Wohnhäuser geteilt, in das Innere, Andaruni, den Frauenbereich und das Äußere, Biruni, Teil des Hauses, den zu betreten, nur den Männern gestattet ist. Innen und Außen. Frauen und Männer. Andarun und Birun. In diesen zwei Reichen, ungeachtet der historischen Umwälzungen und der politischen Ereignisse, die jenseits der Mauern hohe Wellen schlagen, nimmt die Geschichte von Mahbube, Tochter einer Teheraner Aristokratenfamilie, ihren Lauf.

»Es war Frühling. Es war zu Beginn der Regierungszeit von Reza Sha. Ich weiß nur noch soviel, daß ein paar Jahre seit seiner Krönung vergangen waren. Wie viele Jahre? Vier Jahre? Fünf oder drei? Ich weiß es nicht. Frag mich nicht. Als ob ich mich nicht auf dieser Welt befunden hätte, ich war in einer anderen. Nur an das, was ich mir wünschte, erinnere ich mich.« So beginnt Mahbube, die Altgewordene, die Erzählung ihres Lebens. Reza Sha Pahlawi (1925-1941) betrieb eine radikale Politik der Säkularisierung. Männer und Frauen, die nicht einmal einen gemeinsamen Bürgersteig benutzen durften, wurden zwangseuropäisiert. Zumindest in den Städten. Frauen, die bisher in Tchador und Gesichtsschleier gekleidet waren, sollten zwangsentschleiert werden. Die Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit wurde aufgehoben. Doch Mahbube sagt: »Ich bekam nichts mit von der Welt. Ich war verliebt.«

In weit schweifenden, ausholenden Beschreibungen wird ein orientalischer Teppich ausgerollt. Farbenprächtige, feinziselierte Bilder illustrieren die traditionelle Kultur, die Rituale, die inneren Räume der Teheraner Oberschicht. »In unserem Haus, dem Andaruni und dem Biruni, gab es so viele Dienerinnen und Diener, daß ich mich nicht mehr an alle erinnern kann,« beginnt die alte Tante die Lehrerzählung für ihre unstandesgemäß verliebte Nichte. Ein blumengeschmücktes Paradies war der Hof ihres Elternhauses. Mittags stieg der Duft von Speisen aus der Küche und mischte sich mit dem der Blüten. Ihre Mutter, Nazanin, die Reizende, war von einer ausländischen Lehrerin im Führen eines Luxushaushalts ausgebildet worden. Der Vater liebte es, seine Töchter aus den Gedichten des berühmten Hafis rezitieren zu hören. Ja, die fünfzehnjährige Mahbube lebt in einem prächtigen Märchen aus tausend und einer Nacht. So haben wir uns Persien immer vorgestellt. Ein Prinz hat um ihre Hand angehalten. Ihr Cousin Mansur hat sich Mahbube zu Füßen geworfen. Sie aber hat sich nach einem kurzen Blick durch den Gesichtsschleier in Rahim, einen jungen ungebärdigen Schreiner, verliebt. Nie hätte sie mit einem gewöhnlichen Handwerker auch nur einen Gruß getauscht. Doch jetzt sitzt sie im Elfenbeinturm ihrer Gefühle, lässt pompöse Brautwerbungszeremonien an sich vorüberziehen und lächelt über fade Scherze, damit ihre Zähne begutachtet werden können: »Ausgezeichnet, was für Zähne, sie gleichen Perlen.« Gleichmütig lässt sie derlei Komplimente von sich abgleiten, weist die vornehmsten Freier ab und setzt ihren Willen durch. Die Trauung findet statt, in Abwesenheit der Eltern, ohne den familienüblichen Prunk. Ohne die Spiegel, ohne Kerzenleuchter, die zu jeder persischen Hochzeit noch heute gehören. Nichts soll den Blick in den Spiegel trüben, die Kerzen sollen ewig brennen.

Ein symbolischer Schatten liegt von Beginn an über Mahbubes Ehe mit Rahim, dem Schreiner. Von ihrer Familie finanziell unterstützt, aber ausgegrenzt und verlassen, findet sich die Tochter aus gutem Hause in ihrem neuen Leben nicht zurecht. Ihr Mann ist kein Traumprinz, sondern ein die Bequemlichkeit liebender kleiner Arbeiter, den weder eine militärische Laufbahn, noch das Geschäft interessieren. Seine vulgäre Mutter, die die Haushaltsführung an sich zu reißen versteht, macht Mahbube das Leben zur Hölle. Es kommt, wie es kommen soll, oder wie der Vater es sich gewünscht hat: Sie kehrt zurück ins Elternhaus.

»Endlich ward ich unter der grösten Verfluchung der Familie, mit ihren Consenzen versehen und...getraut, die ganze Handlung war so läppisch, so elend...Gott verzeihe meine Schuld. Nun bin ich verheurathet.« Was Clemens Brentano seinem Freund Achim von Arnim schrieb, hätte auch Mahbube ihrer Amme klagen können. Seit der Erfindung der Liebe sind romantische Mesalliancen kulturübergreifend als Gegengift zur arrangierten Besitzstandswahrung eingesetzt worden, in Literatur und Wirklichkeit. Wir kennen die Verwicklungen und sehen das Scheitern und Scherbenzählen voraus. Der Leidenschaft eines Augen-Blicks folgt das böse Erwachen. »Der nächtliche Wein ist nicht den Morgen der Trunkenheit wert«, beendet Tante Mahbube die Erzählung für ihre verliebte Nichte im Teheran der Gegenwart.

»Welchen Weg nimmt eine unmögliche Liebe, wenn Familie und islamische Tradition das Sagen haben?« fragt der Klappentext betont harmlos. Zwangsentschleierung und wiederum Zwangsverschleierung nach der islamischen Revolution, die Einführung einschneidender Alltagsregularien unter strengster Observanz fallen in den historischen Zeitraum dieser Liebesgeschichte. Doch die politischen Ereignisse mit ihren Folgen berühren das Leben der Protagonistin kaum. Irgendwann, ja, trägt sie Faltenrock und Bluse, auf der Straße Hut und Mantel, ist sie geschieden und Nebenfrau ihres Vetters.

Im Iran ist Der Morgen der Trunkenheit von Fattaneh Haj Seyed Javadi seit Jahren ein Bestseller. Vielleicht gerade deshalb, weil hier die Innenräume die Welt sind. Weil die islamischen Traditionen und wirksamen Beschränkungen der Frauen im öffentlichen Leben so gut wie keine Rolle spielen. Noch heute werden viele Ehen arrangiert. Sich offen kennenzulernen ist nur in den Elternhäusern möglich. Denkbar, dass die Sehnsüchte der Heldin, ihr leidenschaftlicher Kampf für die unmögliche Verbindung, trotz ihres Scheiterns hoffnungsvolle Sympathie bei den Leserinnen weckt. Der Roman endet offen. Die Nichte steht vor derselben Entscheidung. Europäische Leserinnen mögen missmutig kritisieren, dass die studierte Nichte nicht weiter gekommen ist als ihre verstaubte Tante. Für die Iranerinnen aber ist auch die verschleierte Sportlerin im Olympiateam 2000 ein erster, großer Schritt gewesen. Vielleicht sind versteckte Anspielungen oder gar systemkritische Spitzen nur einem eingeweihten Publikum zugänglich. Vielleicht ist die fehlende Schilderung des in religiösen Gesetzen und Vorschriften gefesselten Alltags gerade das Subversive an Mahbubes Geschichte, ein Plädoyer für gediegenen, wohlsituierten Säkularismus. Für die hiesigen Leser springt zumindest die unterhaltsame sinnliche Annäherung an eine fremde Kultur heraus, samt nützlichem Glossar. Der Morgen der Trunkenheit weckt die Neugier auf iranische Kultur als Märchen aus tausend und einer Nacht und setzt dabei auf den kulturüberschreitenden Pilcher-Effekt.

Fattaneh Haj Seyed Javadi: Der Morgen der Trunkenheit. Roman. Aus dem Persischen von Susanne Baghestani. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2000, 416 S., 49,80 DM

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