Am Anfang war die See. Dann, natürlich, kamen die Seeleute. Aber, schon sehr bald, kletterten Augenmenschen über die hohe Düne, Klappstaffeleien unterm Arm. "Wat sall dat sin, Frülein?" "Ein Motiv". Sagt die Malschülerin, packt Pinsel und Palette ein, lächelt freundlich ins verwitterte Fischergesicht und lenkt ihre Schritte der Villa St. Lukas zu. Denn lange schon ist aus dem Fischerdörfchen Ahrenshoop eine berühmte Malerkolonie geworden. Rechts eine Villa, links eine Villa, in ihrer äußeren Erscheinung, in ihrer Ausstattung und Ausschmückung als Heimstätte bedeutender Künstler leicht erkennbar. Joa, Joa. Und auch das Wirtshaus "Zur Vergnügten Spickflunder" öffnete der ausgelassenen Boheme immer wieder gerne die gastliche Pforte. Die Preise stiegen noch einmal. Albert Einstein legte sich an den weißen Strand, ließ sich braten wie ein faules Krokodil, ("wenns hoch kommt ein halbes Stündchen barfuß herumtorkeln") und machte Urlaub vom Krieg. Da war übrigens schon Schluss mit dem Künstlervölkchen.
Später, in der neuen Zeit, ergießen sich wahre Schiffsladungen von Badegästen aus den KdF-Dampfern. Lärmendes Geschrei am einst so vornehm stillen Strande. Bis es dann aus ist mit den großen Ferien. Vorbei, vorbei. Nur noch die ewige See, immerfort Strand nagend, kreischende Möwen, vom Sturm gebeutelte Krüppelkiefern. Und die Zeit ging wieder über den Strand. Doch plötzlich waren die Dichter da. "Liebes Tagebuch: ich hoffe, du wirst es zu schätzen wissen, dass ich dich hierher ans Meer mitgenommen habe. Wind und Wellen, Sonne, Meer. Nachgedacht, geträumt, gedichtet (zwei neue Gedichte "Das Wunder" und "Ziehharmonika")" Wie schade, dass Herr Becher, alberner Ehezwistigkeiten wegen, eilig und schmerzlich Abschied nehmen musste: "Warte nicht auf mich. Ahrenshoop ist nicht mehr. Ich komme nicht wieder (nie-wieder?)". Der Herr Kulturminister regte sich auf, wollte wenigstens in der Sommerfrische von Intelligenz verschont bleiben. Hatten vielleicht Brecht, die Berghaus und Brecht-Weigel ganz frech ihr Handtuch neben seinem ausgebreitet? Joa, joa, murmelt der Fischer und spuckt in die See. Eins zwei drei, so ging´s im Sauseschritt.
Und wieder ist eine neue Zeit angebrochen. Der Kulturbund ging. Der Kulturfond kam und man beschloss: Ja, der Heilige Lukas, Schutzpatron der Maler, Goldschmiede und Bildhauer möge seine schirmende Hand wieder über viele vielversprechende Talente halten. Die Ruhe, der weite Blick hin zum Bodden, nur über die Straße und schon das Meer, immer noch da, und nebenan der Bäckermeister Hagedorn. Allhier fand so mancher dürre Stipendiat, so manche hohlwangige Stipendiatin ideale Bedingungen für inspiriertes Werken und Dichten. Ein paar fette, fruchtbare Jahre gingen ins Land. Geniale Bilder wurden gemalt, Kompositionen und Texte entstanden. Meister Hagedorn verkaufte viele Brötchen an die hungrigen Genies aus dem Künstlerhaus Lukas und endlich erfüllte er sich den innigsten Kinderwunsch. Einen Brunnen ließ er meißeln, grad vor den Laden. Aber auf den Rand setzte er eigenhändig den Froschkönig. "Ein Träumer, auf seine Art", lachten die Stipendiaten, und wenn sie morgens ihre Brötchen kauften, sahen sie den Goldfischen zu. Da begab es sich, dass der Kulturfond gebot: Kinder, nun ist´s aber mal genug. Den Menschen draußen im Lande geht´s schlecht. Kunst kann man nicht essen. Jammert nicht, ihr Lukasjünger, denn ich sage Euch, mit dem inspirierenden Boddenblick ist sowieso finito. Hagedorn baut noch ein Haus. Genau vor eure Atelierfenster.
Und es weihnachtet schon sehr. Da kommen die Künstler zusammen zur schönen Bescherung. Einmal noch den Blanken Hans besuchen. Sich die Gischt um die Schuhspitzen spülen lassen. Dabei triumphierend die stark geschrumpfte Steilküste konstatieren. Einmal noch im Spar-Imbiss sitzen und den Blick über den kunstvoll asphaltierten Parkplatz schweifen lassen. Dann gemeinsam durch das malerische Örtchen streifen und mit eigenen Augen sehen: Jeder Mensch ist ein Künstler, also fast jeder. Kunstkaten, Kunstscheune, Künstlerische Keramik und ein riesen rosa Plastikschwein, "Bäuerliches Accessoire" genannt, für bare 24 Euro 95, zeugen davon.
Nacht ist es geworden. Der Sturmwind pfeift und treibt das Grüppchen durch die stille Dorfstraße. Wacker geführt von dem Mann mit der Stirnlampe. "Ist doch nicht teuer. Gab´s bei Penny." Er leuchtet damit ins Kunst-Atelier Professor Schöttler, vor dem mannshoch Palette und zwei Pinsel aufgebaut sind. "Och, das kann ich auch", meint jemand. "Schlecht gemaltes Obst auf Zahnpasta-Grundierung", urteilt der Experte mit der Stirnlampe, den Kopf schief haltend, einen Schritt zurück in die kahlen Rabatten. "Nee, ich meine, Ahrenshoop. Also die Landschaft ist klasse. Aber der Rest ist böse."
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