Ein Hauch von Ferien liegt über dem Filmfestival von Venedig, eine Atmosphäre des Müßiggangs, der anderen Festivals eher fremd ist. Das hat mit den Besonderheiten des Ortes zu tun - vom Kino zum Adria-Strand sind es kaum 50 Meter - und lässt sich als nachhaltige Wirkung des Gründungsmythos betrachten: Graf Volpi ließ auf der Terrasse seines eleganten Excelsior1932 den ersten Film vorführen mit der Absicht im Hintergrund, durch das Festival die Hotel-Saison verlängern zu können. Schnell wurde der anfängliche Zweijahresrhythmus, der sich im Namen der "Biennale" so hartnäckig hält, in einen jährlichen überführt. Die weltkriegsbedingte Unterbrechung führt zusätzlich zu der etwas unübersichtlichen Situation, dass das älteste Filmfestival der Welt in diesem Jahr zwar seinen 70 Geburtstag feierte, aber erst den 59. Jahrgang verzeichnete. Für besinnliche Rückschauen und feierliche Jubiläen gäbe es also genügend Anlass, 2002 erwies sich jedoch als keine günstige Gelegenheit dafür.
Man war gewissermaßen schon froh, dass die "Mostra internazionale d´arte cinematografica" überhaupt stattfand, hatte doch Berlusconis Kulturpolitik mit dem erklärten Ziel, die angebliche Hegemonie der Linken in der Kultur zu brechen, die verdienstvollen Leiter des Festivals aus dem Job gedrängt, ohne rechtzeitig für würdige Nachfolger zu sorgen. In letzter Minute, nämlich erst im März diesen Jahres, war dann überraschend und für ein Jahr begrenzt Moritz de Hadeln berufen worden, der selbst im Jahr zuvor nach 22 Amtsjahren als Leiter der Berliner Filmfestspiele entlassen worden war. Die Erwartungshaltung war also allenthalben gedämpft; das Programm wurde im folgenden auch immer unter dem entschuldigenden Aspekt betrachtet, dass "angesichts der kurzen Zeit" nicht mehr möglich war.
Gleich zu Festivalbeginn sorgte de Hadeln für weitere atmosphärische Störungen, indem er sich kritisch zur Arbeit seiner Vorgänger äußerte und sie beschuldigte, das Festival auf Zweitliganiveau gebracht zu haben. Es sei zuviel Drittweltkino gezeigt und zuviel Esoterisches ausgezeichnet worden. Zunächst ließen sich diese etwas unschönen Töne als strategische Verlautbarungen eines Festivalleiters begreifen, der seinen Anspruch bekräftigen wollte, die weitere Entwicklung des Festivals zu prägen und nicht einfach nur für ein Jahr die Stellung zu halten, bis jemand Besseres gefunden wäre. Nach erfolgter Preisvergabe kommt ihnen allerdings eine besondere Ironie zu: Wieder ging nämlich ein Großteil der Preise des Festivals in den verschiedensten Sektionen an alles andere als gefällige asiatische Produktionen. Den Hauptpreis des goldenen Löwen erhielt dazu noch ein Film, der bereits den Protest des Vatikan auf den Plan gerufen hat. Seine Unabhängigkeit von Berlusconis gewünschter Politik (oder dem, was man sich darunter vorstellt) hat das Festival auf diese Weise entgegen allen düsteren Vorahnungen bewiesen. Nur wie und unter welcher Leitung es nun weitergeht, ist derzeit noch offen. Verwicklungen, wie sie für jedes andere Festival wohl tödlich wären, scheint Venedig jedoch in unbestechlicher Geruhsamkeit zu überleben, nicht zuletzt dank dieser einmaligen Ausstrahlung des Ortes.
Mit dem goldenen Löwen für Peter Mullans Magdalene Sisters wurde ein Film ausgezeichnet, der bei Kritikern und Publikum gleichermaßen hoch in der Gunst stand, wie das nur selten der Fall ist. Peter Mullan, den meisten als Schauspieler von Ken Loachs My name is Joe bekannt, zeigt in seinem Film vier Mädchenschicksale im Irland der sechziger Jahre, vor allem aber den Anteil der "Magdalenenklöster" daran, jener von der katholischen Kirche betriebenen Institutionen für "gefallene Mädchen", in denen junge Frauen, ohne dass sie justiziable Vergehen begangen hätten, auf Lebenszeit eingesperrt und zur Arbeit gezwungen wurden. Das unheimliche Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte, die solche Praxis möglich machte, führt Mullan auf grandiose Weise in seiner Eröffnungssequenz vor Augen: Ein Mädchen ist von ihrem Cousin während einer Hochzeitsfeier an einen entlegenen Ort gelockt und dort vergewaltigt worden. Als sei nichts geschehen sieht man ihn wieder zu den Feiernden stoßen. Kurze Zeit später kommt auch sie wieder in den Raum. Durch ausgelassen Tanzende hindurch beobachtet die Kamera, wie sie ihrer Freundin etwas ins Ohr flüstert, dabei auf den Cousin weisend. Die Freundin steht auf und erzählt ihrem Vater davon. Dessen Blick zurück auf das Mädchen lässt den Zuschauer das drohende Unheil schon ahnen. Während die Tanzmusik weiterspielt wird die Nachricht von Ohr zu Ohr weitergegeben. Und immer wieder ist es die junge Frau - und nicht etwa ihr Cousin -, auf die die neugierigen, vorwurfsvollen, befremdeten oder auch nur strengen Blicke zurückfallen. Deutlicher lässt sich kaum zeigen, wie ein Opfer zum Skandal wird und deshalb ausgeschlossen, weggeschlossen werden muss, damit es nicht weiter an die Tat erinnern kann. Die junge Frau landet im Magdalenenkloster genauso wie die Waisin, die von den Nonnen als "Verführerin" erkannt wurde aufgrund ihrer Schönheit und einem unschuldigen Flirt mit Jungs am Gartenzaun. Beide fühlen sich allerdings unschuldig gegenüber zwei weiteren jungen Frauen, deren "Verbrechen" darin besteht, ein uneheliches Kind auf die Welt gebracht zu haben. Von dieser Sünde sollen sie sich durch die Arbeit im Kloster nun reinigen - die Kinder wurden ihnen weggenommen. Mullans Spielfilm beruht auf wahren Geschichten: Das letzte der Magdalenenklöster sei erst 1996 geschlossen worden, erfahren wir aus dem Abspann.
Peter Mullan selbst verglich den Umgang der irischen Katholiken mit den Frauen zeitgemäß mit der Haltung des islamischen Fundamentalismus. Wie sehr er damit ein vielleicht allzu gängiges Feindbild bedient, zeigte auch der spontane Applaus, mit dem das Publikum den schließlichen Akt der Rebellion im Film belohnte. Wobei auf den zweiten Blick vor allem die Einfachheit verblüfft, mit der den zwei Mädchen am Ende die Flucht gelingt: Sie benutzen, was für Frauen tabu ist, nämlich bloße körperliche Gewalt. Es hat fast etwas Komödiantisches, wie sie mit einem drohend geschwungenen Kerzenständer sich der Schlüssel bemächtigen und ihre Verfolgerinnen in die Flucht schlagen. Und doch scheint in dieser Sequenz auf, dass weibliches Gefangensein auch immer etwas mit verinnerlichten Zuschreibungen und Tabus zu tun hat.
Was bei Peter Mullans Film zu kurz kommt, stand in dem anderen herausragenden Wettbewerbsfilm, Far from heaven von Todd Haynes - bedacht mit Preisen für beste Kamera und die beste Schauspielerin - im Zentrum. Von einigen als leere Stilübung der Douglas-Sirk-Imitation abgetan, lässt sich Haynes´ Film eben auch als Frauenstudie begreifen, die sich mit großer Präzision und Sinn für doppelten Boden der Mittel des "women´s film" bedient: In Kleidern, Dekorationen, der Musik bis hin zum Filmtitel selbst bildet Haynes das Melodram der fünfziger Jahre nach. Man kann nur bewundern, wie es ihm gelingt, trotz der Heftigkeit von Farben und Gefühlen weder das Genre noch Meistervorbild Douglas Sirk an die Zeitgeistironie auszuliefern, sondern ganz im Gegenteil an dessen Subtilität zu erinnern und gleichzeitig die schwammigen Melodramthemen von damals mit größerer Schärfe und Deutlichkeit zu konfrontieren. Julianne Moore, im übrigen sowohl von der Jury als auch vom Publikum ausgezeichnet, spielt die perfekte Hausfrau mit der perfekten Familie, deren so mühsam mit weiblichem Fleiß und Opferbereitschaft gepflegte Welt in die Brüche geht, als sie entdecken muss, dass ihr Ehemann homosexuell ist und ihre eigene aufkeimende Liebe zu einem Schwarzen von der Unduldsamkeit der weißen wie der schwarzen Nachbarschaft jede Existenzgrundlage genommen wird. Das weibliche Gefängnis aus Anpassung an vorgegebene Normen und selbst auferlegter Beschränkung durch disziplinierte Nettigkeit spielt Julianne Moore mit einer inneren Wärme, die mit den leuchtend-satten Herbstfarben des "Indian Summer" im Hintergrund konkurriert. Wo Mullan sein Publikum durch schließlichen Ausbruch der Heldinnen zu befriedigen weiß, bleibt Haynes ganz dem Melodrama und dem Überschießen der vergeblichen Gefühle verhaftet. Sein Sinn für Tragik kommt daher mit weniger demonstrativen Schuldzuweisungen aus.
Haynes Film spielt in den fünfziger Jahren - vom Kino und insbesondere vom Festivalkino wird aber stets die Verortung in der Gegenwart erwartet. Der in der Reihe "Eventi speziale" gezeigte Kompilationsfilm zum 11. September erwies sich in dieser Hinsicht nicht nur wegen der Aktualität des Themas als überaus aufschlussreich. Für "11´09´´01 - September 11" waren 11 Regisseure aus verschiedenen Kulturen gebeten worden, ihre jeweilige persönliche Ansicht zu den Ereignissen am 11. September 2001 filmisch umzusetzen, wobei die einzige Vorgabe die der Länge war: Jeder Teil sollte 11 Minuten, neun Sekunden und ein Bild dauern - in der Zeitform sozusagen die Signatur des Datums tragend. Verbunden wurden die einzelnen Teile durch die Einblendung einer Weltkarte in der durch Leuchtmarkierung jeweils New York und das Herkunftsland des Regisseurs angezeigt wurden.
Interessanterweise nahm nur ein Regisseur, der Mexikaner Alejandro González Inárritu (Regisseur des auch bei uns sehr erfolgreichen Amores Perros) das Ereignis als solches in den Blick. Er setzte eine Toncollage zusammen aus den Stimmen der Opfer auf den Anrufbeantwortern ihrer Nächsten und anderen O-Tönen der Zeit. Wie Blitze zeigt er dazu für jeweils nur Sekunden die tabuisierten Bilder derer, die sich aus den Türmen stürzten. Zum größeren Teil bleibt die Leinwand jedoch schwarz. Inárritu bringt auf diese Weise für Momente die Verstörung über die Ereignisse zurück; es bleibt beim Zuschauer jedoch eine Unsicherheit darüber, was davon zu halten ist, wenn aus Schicksalen Kunstmaterial wird.
Den größten Beifall unter den elf Beiträgen bekam Ken Loach für seine Erinnerung an jenen anderen 11. September, als 1973 in Chile mit Unterstützung von amerikanischer Seite Salvador Allende gestürzt wurde. In Form eines Briefes eines chilenischen Exilanten an die Angehörigen der Opfer aus dem WTC kanalisiert Loach auf sehr einfache Weise die latente antiamerikanische Empörung. Politik sei zu wichtig, um sie den Politikern zu überlassen, schreibt Loach zu seinem Kurzfilm im Katalog.
Eine im Projekt "11´09´´01" angelegte Tendenz ist es, den jeweils eigenen Anteil an dem Ereignis herauszustellen, es für sich selbst und den eigenen Kulturraum zu vereinnahmen. Bei Loach geht das den für die europäische Linke sehr bezeichnenden Weg über die Identifikation mit anderen Opfern. Der Franzose Lelouch entschied sich für das apolitische Gegenteil: Der Anschlag auf die Türme wird bei ihm Teil einer Liebesgeschichte. Eine der heitersten Episoden kam aus Burkina Faso, wo Regisseur Quedraogo vier Freunde zeigt, die bin Laden in Ouagadougou entdeckt zu haben glauben und die 25 Millionen Dollar Belohnung für seine Ergreifung kassieren wollen, was ihnen natürlich nicht gelingt. Durch Kindermund die Gewichtungen der Ereignisse richtig zu stellen, zu diesem Mittel greift auch die Iranerin Samira Makhmalbaf, wenn sie in ihrer Episode eine Lehrerin zeigt, die versucht, ihre Erstklässler zur Andacht an die Opfer in New York aufzurufen. Um ihnen wenigsten ein Bild zu vermitteln, stellt sie ihre kleinen Schüler am Ende vor einen hochragenden Schornstein und überredet sie, hinaufzusehen.
Der aktuell-politischste Beitrag kam jedoch von der Inderin Mira Nair, die in knappen Szenen die wahre Geschichte einer New Yorker Familie südasiatischer Herkunft nachstellte, deren Sohn am 11. September verschwand. Zunächst der Beteiligung am Terrorismus verdächtigt, stellt sich schließlich heraus, dass er zum WTC gefahren ist, um zu helfen und dort umkam. Die "Islamophobie", vor deren Zunahme Nair warnen möchte, spielt tatsächlich untergründig eine viel größere Rolle, als allgemein zugegeben wird.
Es hatte sich gerade das Gefühl einer gewissen Enttäuschung über das diesjährige Wettbewerbsprogramm verbreitet, als das asiatische Kino mit so unterschiedlichen Filmen wie Dolls von Takeshi Kitano und Oasis von Lee Chang-dong Gelegenheit bekam, seine Stärken sowohl im Erzählen in Zeichen (Kitano) als auch sozialer Zusammenhänge zu zeigen. Mit dem Preis für die beste Regie und einem für die beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet, beschreibt Oasis die ganz und gar unromantische Romanze zweier "beschädigter" Charaktere, die den Zuschauer alles andere als zur Identifikation einladen: Der unreife und exzentrische Jong-du bemüht sich um die unter spastischen Lähmungen leidende Gong-ju, auf nicht immer einladende Weise. Die Beziehung der beiden verfolgt der Zuschauer zu Anfang mit fast demselben Argwohn, mit der sie von der abgebildeten koreanischen Gesellschaft beobachtet wird. Unsentimental und bitter im Ausgang schafft Oasis das kleine Wunder, den Zuschauer am Ende vom Blick auf die Außenseiter zu einem sie begleitendenbewegt zu haben.
Filme wie Oasis sei ganz bestimmt nicht das Kino, dass Berlusconis Kulturvertreter am Lido ausgezeichnet sehen wollten, hieß es am Ende des Festivals. In den glamourösen Rahmen des venezianischen Lido wünschten die sich die reine Fortschreibung des Glanzes auf der Leinwand. Dabei bestand der besondere Zauber Venedigs doch seit jeher im Wechselspiel mit dem Morbiden, dem Zerfall und dem Abseitigen, also eben jenen Welten, denen man im Kino immer wieder in wechselnden Gestalten begegnet.
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